Название: Verschwundene Reiche
Автор: Norman Davies
Издательство: Автор
Жанр: Историческая литература
isbn: 9783806231199
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A handful of grey ashes, long, long ago at rest,
Still are thy pleasant voices, thy nightingales, awake,
For Death, he taketh all away, but them he cannot take.3
Jemand hat mir, Herakleitos, von deinem Tod berichtet und mich zum Weinen gebracht.
Ich erinnerte mich, wie oft wir beide die Sonne im Gespräch untergingen ließen. Du,
mein Freund aus Halikarnassos, bist längst schon irgendwo Asche, deine Nachtigallen
aber leben, auf die der alles hinwegraffende Hades seine Hand nicht legen wird.B
Heraklit und seine Nachtigallen findet man in meiner Arbeit wieder.
Als Schulabgänger folgte ich dem Rat meines Geschichtslehrers und verbrachte die Sommerferien mit der Lektüre von Edward Gibbons Verfall und Untergang des Römischen Imperiums sowie seiner Autobiografie. Gibbons Thema war, in seinen eigenen Worten ausgedrückt, »das vielleicht größte und schrecklichste Schauspiel in der Geschichte der Menschheit«.4 Ich habe nie etwas Großartigeres gelesen. Gibbons wunderbare Darstellung zeigt, dass die Lebensspanne auch der mächtigsten Staaten endlich ist.
Jahre später stürzte ich mich als Historiker in die Geschichte Mittel- und Osteuropas. Meine erste Aufgabe als Dozent an der University of London bestand darin, einen Kurs mit neunzig Einheiten zur polnischen Geschichte vorzubereiten. In dem Kurs sollte es vor allem um die Union oder Rzeczpospolita von Polen–Litauen gehen, die bei ihrer Entstehung im Jahr 1569 der größte Staat Europas war (oder zumindest über die größten bewohnten Landstriche unseres Kontinents herrschte). Dennoch wurde der polnisch-litauische Staat in wenig mehr als zwei Jahrzehnten am Ende des 18. Jahrhundert so vollständig vernichtet, dass kaum jemand heute auch nur von ihm gehört hat. Und er war nicht das einzige Opfer. Die Republik Venedig ging in dieser Zeit ebenso unter wie das Heilige Römische Reich.
Während meiner akademischen Laufbahn war die Sowjetunion die längste Zeit das wichtigste Forschungsobjekt meines Faches und eine der beiden Supermächte weltweit. Sie besaß das größte Territorium der Welt, ein gewaltiges Arsenal nuklearer und konventioneller Waffen und ein noch nie dagewesenes Aufgebot der unterschiedlichsten Sicherheitsdienste. Keine ihrer Waffen, kein Polizist hat sie retten können. An einem schönen Tag des Jahres 1991 verschwand sie von der Landkarte und wurde nicht mehr gesehen.
Deshalb war es wohl kein Wunder, dass ich mich, als ich anfing, die Geschichte der Britischen Inseln zu schreiben,5 fragte, ob die Tage des Staates, in dem ich geboren wurde und in dem ich lebe, des Vereinigten Königreichs Großbritannien, vielleicht auch gezählt sein könnten. Und nach längerem Nachdenken kam ich zu dem Schluss, dass es tatsächlich so war. Meine strenge, nonkonformistische Erziehung hatte mich gelehrt, den Insignien der Macht gegenüber misstrauisch zu sein. Die wunderbaren, gemessenen Kadenzen des bekannten Kirchenliedes klingen noch in mir nach:
So be it, Lord; Thy throne shall never,
Like earth’s proud empires, pass away;
Thy kingdom stands, and grows for ever,
Till all Thy creatures own Thy sway.6
So sei es, Herr: Die Reiche fallen,
Dein Thron allein wird nicht zerstört;
Dein Reich besteht und wächst, bis allen
Dein großer, neuer Tag gehört.
Es ehrt Königin Victoria, Kaiserin von Indien, sehr, dass sie zu ihrem diamantenen Thronjubiläum um gerade dieses Lied bat.
Historiker und ihre Verleger verwenden übermäßig viel Zeit und Energie darauf, die Geschichte all jener Dinge zu verkaufen, die in ihren Augen mächtig, wichtig und beeindruckend sind. Sie fluten die Buchläden und die Hirne ihrer Leser mit Geschichten großer Mächte, großer Leistungen, großer Männer und Frauen, Erzählungen von Siegen, Helden und Kriegen – insbesondere von Kriegen, die »wir« angeblich gewonnen haben – und von den großen Übeltaten, denen wir uns entgegenstellten. Im Jahr 2010 sind allein in Großbritannien 380 Bücher über das Dritte Reich erschienen.7 Wenn schon nicht »Macht geht vor Recht«, so könnte das Motto der Verlagsbranche doch durchaus »Nichts ist so erfolgreich wie der Erfolg« lauten.
Historiker konzentrieren sich zumeist auf die Vergangenheit von Ländern, die es noch gibt, sie schreiben hunderte und tausende Bücher über britische Geschichte, über französische, deutsche, russische, über amerikanische und chinesische Geschichte, über indische und brasilianische, und so fort. Bewusst oder unbewusst suchen sie die Ursprünge der Gegenwart und setzen sich dabei der Gefahr aus, die Geschichte rückwärts zu lesen. Sobald Großmächte entstehen, seien es die Vereinigten Staaten im 20. oder China im 21. Jahrhundert, wird nach Lektüreangeboten zur amerikanischen oder chinesischen Geschichte gerufen, und ein Sirenengesang suggeriert, dass die heute wichtigen Länder auch jene seien, deren Vergangenheit die intensivste Erforschung verdiene, ja, dass ein breites historisches Wissens durchaus vernachlässigt werden könne. In diesem Dschungel der Informationen über die Vergangenheit setzen sich unweigerlich die großen Tiere durch. Kleinere oder schwächere Länder haben Schwierigkeiten, wahrgenommen zu werden, und tote Reiche finden selten überhaupt noch Fürsprecher.
Unsere mentalen Landkarten sind daher zwangsläufig verzeichnet. Unsere Hirne können Bilder nur aus den Daten zusammensetzen, die jeweils im Umlauf sind; und die verfügbaren Daten werden von Mächten der Gegenwart geschaffen, von vorherrschenden Moden und der gängigen Meinung. Wenn wir weiterhin andere Gebiete der Vergangenheit vernachlässigen, werden die weißen Flecken in unserem Denken größer, und wir schaufeln immer mehr Wissen in jene Gebiete, die wir schon kennen. Unvollständiges Wissen wird noch unvollständiger, und Unwissen verselbstständigt sich.
Der Trend zur Überspezialisierung bei den Fachleuten macht die Sache nicht besser. Der Tsunami der Informationen in der heutigen, vom Internet dominierten Welt ist übermächtig; die Zahl der Zeitschriften, die gelesen und der neuen Quellen, die herangezogen werden wollen, nimmt exponentiell zu, und viele junge Historiker fühlen sich genötigt, ihre Bemühungen auf minimale Zeitspannen und winzige Territorien zu beschränken. Sie sehen sich gezwungen, in einem obskuren, akademischen Jargon über ihre Arbeit zu sprechen, den sie mit immer kleineren Zirkeln gleichgesinnter Kollegen teilen, und überall hört man zur Verteidigung den Ruf: »Das ist nicht meine Epoche.« Da aber die akademische Diskussion – ja, eigentlich das Wissen selbst – durch Neueinsteiger fortschreitet, die die Methoden und Schlussfolgerungen ihrer Vorgänger hinterfragen, stehen Historiker jeden Alters, die in unerforschtes Gebiet aufbrechen oder großformatige, umfassende Panoramen malen wollen, jetzt vor immer größeren Schwierigkeiten. Mit wenigen – manchmal überaus wertvollen – Ausnahmen bleiben die Fachleute auf den ausgetretenen Pfaden.
In dieser Hinsicht war ich angenehm überrascht, als ich feststellte, dass einer der ganz Großen meiner Jugendzeit diesen Trend schon lange erkannt hatte. Mein eigener Tutor in Oxford, A. J. P. Taylor, durchstreifte weiträumig und furchtlos viele Felder der britischen und europäischen Geschichte und gab uns allen darin ein gutes Beispiel.8 Aber erst vor Kurzem ist mir klar geworden, dass Taylors großer Rivale Hugh Trevor-Roper das Problem schon mit gewohnter Eleganz definiert hatte:
Heute »spezialisieren« sich die meisten Historiker. Sie wählen eine Epoche, manchmal eine sehr kurze Zeitspanne, und innerhalb dieser Epoche bemühen sie sich in einem aussichtlosen Kampf mit den ständig wachsenden Quellenbergen, alle Fakten zu kennen. So gerüstet, können sie bequem jeden Amateur niedermachen, der es wagt … in ihr schwer bewachtes Territorium СКАЧАТЬ