Название: Aus der Sicht der Fremden
Автор: Maria von Hall
Издательство: Автор
Жанр: Контркультура
isbn: 9783958408418
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Das deutsche Geld auf dem Sparbuch war im Krieg noch gültig, aber unsere Mutter konnte unterwegs nicht immer Brot kaufen. Wir haben aber nie nach Essen verlangt. Die stete Angst, die uns jeden Tag begleitete, hat uns die Kehle zusammengeschnürt.
***
Kurz vor Kriegsende in Bayern angekommen, waren wir einmal stundenlang mit einem Zug unterwegs. Vater saß mit uns in dem überfüllten Abteil. Es war still im Wagon. Es war ein herrlicher Sommertag, die Sonne schien durch das Fenster des Wagons direkt auf mich, meine beiden Brüder schliefen wie immer wieder fest auf ihren Rucksäcken und der Zug fuhr durch eine schöne, ländliche Landschaft, die mich froh stimmte.
Das monotone Klappern des Zuges auf den Schienen wollte mich gerade in den Schlaf wiegen, als der Zug plötzlich mit quietschenden Bremsen zum Stehen kam. In unserem Wagon brach Panik aus. Die Leute griffen schnell nach ihrem Handgepäck und ihren Koffern und rannten aus dem Zug. Meine Brüder wurden von den Eltern aus dem Schlaf gerissen, wir eilten auch aus dem Zug und folgten den Menschen Richtung Wald, der am Horizont zu sehen war. Da hörten wir schon das tiefe Brummen der Propellermaschinen und kurz darauf das Heulen von Maschinen im Sturzflug, die immer näher kamen. Wir rannten um unser Leben! Am Waldrand angekommen, ließen wir uns erschöpft und atemlos nieder und schauten zurück. Das Heulen der Flieger und das laute Stakkato der Maschinenkanonen hatte aufgehört, aber uns bot sich ein schreckliches Bild! Der Zug, in dem wir gerade noch gesessen hatten, stand in Flammen, die hoch in den Himmel loderten! Die Wagons waren durchschossen und brannten lichterloh. In diesem Moment wurde uns bewusst, wie knapp wir dem Tod entkommen waren! Unser Leben hatten wir der Aufmerksamkeit der Zugbesatzung zu verdanken. Der Lokführer hatte die schwarzen Punkte am Himmel richtig gedeutet und rechtzeitig den Zug angehalten, sonst hätten wir alle unser Leben verloren. Wir waren wie durch ein Wunder gerettet, keiner war verletzt, geschweige denn getötet worden. Der Wald um uns herum war voller Menschen. Bald bildete sich eine Kolonne und die Leute marschierten gemeinsam los. Wir schlossen uns an. Der Marsch durch den Wald hielt erst an, als wir eine asphaltierte Straße erreicht hatten. Hier wurde beraten, wohin und in welche Richtung es weitergehen sollte. Hinter uns lag der Wald und vor uns rechts und links zogen sich Getreidefelder die Straße entlang. Niemand wusste, wo wir uns genau befanden, geschweige denn, wohin die Straße führte. Die Menschen aus dem Zug hielten zusammen, sie bildeten erneut eine Kolonne und es ging nach links. Wir waren stundenlang zu Fuß unterwegs, es waren nur noch die Felder und Wiesen rechts und links zu sehen.
Als am Abend schließlich die Sonne unterging, fing es an zu nieseln, und ging in einen starken Regen über. Wir marschierten trotzdem die ganze Nacht weiter, wir hatten keine andere Alternative. Die Kolonne bewegte sich schweigend, resigniert und schleppend durch die dunkle Nacht. Jeder war durchnässt und sehnte sich nach einem warmen Bett. Mein Vater trug mich und meinen Bruder Karl abwechselnd auf seinen Schultern, dazu noch einen Rucksack und einen Koffer. Ich sah trotz der Dunkelheit, dass an beiden Seiten der Straße in regelmäßigen Abständen schmale, aber sehr hohe Bäume wuchsen. Die gaben uns aber keinen Schutz. Es war eine harte Nacht, die wir nie vergessen haben. Die gesamte Menschenkolonne schob sich schweigend und leise voran, ohne jegliche Hoffnung, bald auf eine Siedlung zu treffen. Es war noch ganz dunkel, als eine Frau meinem Vater plötzlich ein Fahrrad in die Hand drückte und gleich darauf verschwand. Dies passierte so schnell und überraschend, dass weder mein Vater noch meine Mutter wussten, woher die Frau gekommen und wohin sie verschwunden war.
An diese Nacht und die plötzliche Rettung in der Not erinnerte sich unser Vater noch viele Jahre später, als wir schon wieder in Schlesien lebten. Wir saßen alle zusammen beim Abendbrot, als unser Vater, der nachdenklich war und geschwiegen hatte, plötzlich leise sagte: „Es war Rettung in letzter Minute. Ich war schon so schwach, dass ich keine Kraft zum Weitergehen hatte, dann kam die Frau mit dem Fahrrad. Das war die Hilfe, um die ich Gott die ganze Nacht gebeten hatte. Er hat mich erhört.“ Wir wussten sofort, von welcher Nacht er sprach, aber keiner von uns sagte darauf ein Wort. Wir alle waren wieder mitten im Geschehen dieser Nacht und schwiegen. Wie es schien, waren die Kriegserinnerungen auch an ihm nicht spurlos vorbeigegangen. Unser Vater war nach dem sechsjährigen Krieg erst dreiundvierzig Jahre alt.
Als die schwere Nacht schließlich vorüber war und die Menschenkolonne in den Morgenstunden in einem Dorf ankam, breitete sich Erleichterung unter den erschöpften Menschen aus. Leider durften nicht alle bleiben. Der Bürgermeister ließ nur einige Familien mit Kindern im Ort, eben so viele, wie er auf die umliegenden Bauernhöfe verteilen konnte. Der Rest musste wieder aufbrechen. Wir durften bleiben und bekamen ein sehr kleines Zimmerchen bei einem Bauern namens Ziesel zugewiesen, der uns Flüchtlingen nicht wohlgesonnen war. Wir waren dermaßen erschöpft, dass wir den ganzen Tag und die folgende Nacht ohne etwas zu essen durchgeschlafen haben.
Am nächsten Morgen wollte mich meine Mutter nach draußen an die frische Luft schicken, doch ich wollte nicht gehen. Ich fürchtete mich vor dem Bauern. Meine Mutter nahm mich aber an der Hand und führte mich durch den langen, dunklen Flur hinaus. Ich blieb vor lauter Angst vor dem Haus stehen. Ich spürte den bösen Mann hinter der Tür, an der wir eben vorbeigegangen waren, und schaute ängstlich meiner Mutter nach, die zurückging und die Tür hinter sich schloss. In diesem Moment kam der Bauer mit einem Beil in der Hand aus der Küche heraus und ging wütend auf mich los. Der Schreck verlieh mir Flügel und ich rannte um das Haus herum. Meine Mutter stand am offenen Fenster, als hätte sie es geahnt, und hob mich schnell nach oben und ins Innere. Da stand der große Mann auch schon schwer atmend vor dem Fenster und blaffte meine Mutter an: „Ihr! Dahergelaufene Polen!“ Meine Mutter schrie wütend zurück: „Und Sie sind für mich der Teufel!“ Bis dahin hatte ich meine Mutter noch nie so aus der Haut fahren sehen. Mein Herz pochte wie verrückt, ebenso wie ihres. Der Bauer verschwand, weil er begriffen hatte, dass wir keine Polen waren, und ließ uns dann in Ruhe. Seine Frau, die nie gekämmt war, lud meine Mutter sogar einmal zum Essen zu sich in die Küche ein. Es gab damals Knödel aus gekochten Kartoffeln, die sogenannten „Fingerchen“, die sie nicht in Wasser gekocht, sondern in Schweinfett gebräunt hatte. Ich durfte mitessen. Das war für mich etwas Herrliches und es schmeckte hervorragend. Später erfuhr ich, dass man das Gericht Schupfnudeln nennt.
Und noch eine Episode aus der Zeit bei dem Bauern ist mir in Erinnerung geblieben. Der Bauer hatte einen Sohn in meinem Alter. Er hatte krumme Beinchen und ein großes Bäuchlein. Meine Mutter erklärte mir, dass der kleine Luis die englische Krankheit hat. Der Bub, der kleiner als ich war, rannte einmal unerwartet auf mich zu und biss mich in meinen Bauch. Ich schrie und die blauen Spuren seiner Zähne konnte ich lange Zeit sehen. Es waren dunkle Blutergüsse.
***
In diesem Dorf, an dessen Name ich mich nicht mehr erinnere, erlebten wir schließlich auch das Ende des Krieges. Mein Vater hatte zu dieser Zeit alle Hände voll zu tun. Er reparierte im Dorf und in der Umgebung Feldmaschinen, Traktoren und sogar Uhren. Dafür entlohnte man ihn mit Lebensmitteln.
Am 09. Mai 1945, nach der Friedensproklamation, fuhr der Bürgermeister unseres Dorfes mit dem Auto und einer weißen Fahne an die Dorfgrenze und übergab das Dorf den Amerikanern.
Damit hat er vernünftigerweise ein unnötiges Blutvergießen vermieden, und nach der Übergabe kamen die Amerikaner ins Dorf. Ihre riesigen, schweren Panzer schoben sich sehr langsam vor unsere Augen. Wir Kinder standen vor dem Haus und schauten erstaunt und mit großer Neugier zu. Die Panzer waren so breit, dass sie die ganze Straße in Anspruch nahmen. Die Soldaten waren nicht zu sehen, sondern nur ihre Schuhe – wahrscheinlich steckten sie die schmerzenden Beine in die Klappe oben. Sie haben uns aber gesehen und warfen uns Kaugummi zu. Das war etwas, was wir auch noch nicht kannten.
Am 01. Juni 1945 haben die Amerikaner ein Fest für alle Dorfkinder veranstaltet. Sie bauten auf dem Flugplatz am Rande des Dorfes viele Zelte auf und in jedem gab es etwas für die Kinder. Es wurden Orangen, Schokolade, Kekse und Kaugummi verteilt und die Mutter СКАЧАТЬ