Zeit verteilt auf alle Wunden. Birgit Jennerjahn-Hakenes
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Название: Zeit verteilt auf alle Wunden

Автор: Birgit Jennerjahn-Hakenes

Издательство: Автор

Жанр: Контркультура

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isbn: 9783898019088

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СКАЧАТЬ man das schätzen könne, hatte er direkt einen Termin beim Filialleiter Herrn Richter bekommen.

      »Ganz ehrlich, Herr Wachs, ohne das Haus zu schätzen – ich kenne die Gegend –, kann ich Ihnen jetzt schon sagen, dass Sie das Haus im Nu los sind.«

      Martin nickte. Herr Richter fuhr fort: »Wenn Sie wollen, kann ich schon morgen mit Interessenten vorbeikommen. Sie kennen sicher die Lage auf dem Immobilienmarkt. Die niedrigen Zinsen. Man wird Ihnen das Haus aus den Händen reißen. Sagen wir um elf?«

      In dieser Nacht schlief Martin wie ein Stein, so gut wie schon lange nicht mehr. Kein Wachliegen, kein Rote-Zahlen-Anstarren. Keine Träume. Es war schon fast acht.

      Noch immer nach diesem Sportduschgel duftend, das ihm das Gefühl gab, er sei so fit wie ein junger Mensch, saß er an seinem runden Esstisch mit Blick in sein Wohnzimmer und beschmierte sich den dritten Toast. Er war so hungrig. Gerade wollte er nach der Erdbeermarmelade langen, da klingelte das Festnetztelefon. Er hätte den Stecker draußen lassen sollen. Widerwillig stand er auf.

      »Ja bitte?«

      »Hendrik Müller hier.«

      »Hendrik!« Warum nur war er ans Telefon gegangen?

      »Herr Wachs, endlich erreiche ich Sie. Sie sind ja leider krank geworden – ich hoffe, es geht Ihnen wieder besser – und ich dachte, ich frag mal nach, was Sie diese drei Schultage noch mit uns durchgesprochen hätten. Sie wissen doch, dass ich ein gutes Abitur brauche.«

      »Hendrik!«

      »Ja?«

      »Sie schaffen das.«

      »Aber …«

      »Nichts aber. Sie werden das beste Abitur Ihres Jahrgangs machen, und das wissen Sie.«

      »Sie verstehen nicht.«

      »Sie machen sich umsonst Sorgen. Sie haben doch nur Bestnoten. In allen Fächern.«

      »Ich darf mir aber keinen Patzer erlauben. Ohne Stipendium bin ich aufgeschmissen, und ich wollte ja auch nur wissen, was Sie noch durchgenommen hätten, und ob ich vielleicht noch was Bestimmtes nachlesen soll?«

      »Nein, nein.«

      »Gut, dann gehe ich alles noch mal durch. Darf ich Sie anrufen, wenn ich Fragen habe?«

      Nach einem brummigen »Mm« legte Martin den Hörer auf.

       Sie verstehen nicht.

      Doch, er verstand Hendrik. Natürlich war es ihm in all den Jahren, die er ihn unterrichtet hatte, nicht entgangen, dass ihm gute Noten wichtiger waren als anderen Schülern. Und er ahnte auch den Grund dafür.

      Martin räumte den Frühstückstisch ab und fuhr zum Haus seiner Großmutter.

      Schon von Weitem sah er Frau Wondra, die in Begleitung eines Herrn auf ihn zukam.

      »Das ist Herr Schmidt von der Nachbarschaftshilfe, er geht mit mir einkaufen«, sagte sie, als sie auf Augenhöhe mit Martin war.

      »Der Kuchen war lecker«, sagte Martin.

      »Es sind meine Zutaten«, antwortete Frau Wondra.

      Martin ging wortlos weiter, öffnete die Haustür zu Großmutters Haus, betrat es, schloss die Tür hinter sich und fragte sich, was Frau Wondra gemeint hatte. Meine Zutaten. Die Türglocke unterbrach seine Gedanken. Das musste Herr Richter sein mit den Interessenten. Er öffnete.

      »Einen wunderschönen guten Tag«, sagte Herr Richter. Hinter ihm stand eine sechsköpfige Familie: Vater, Mutter und vier Kinder vom Grundschulalter bis Teenager.

      »Am besten, wir gehen gleich außen herum in den Garten«, sagte Martin und trat vor die Tür. Er konnte sich nicht vorstellen, so viele wildfremde Menschen gleichzeitig unkontrolliert durch das Haus trampeln zu lassen.

      »Schau mal Timmy, wie groß der Garten ist«, sagte der Vater. »Wenn wir die Büsche da wegmachen, ist Platz für dein Tor.«

      Die Büsche! Sprach er etwa von den Forsythien oder gar dem wunderschönen Fliederbaum? Martin stellte sich etwas abseits. Herr Richter gesellte sich zu ihm. »Die Nachfrage bestimmt das Angebot. Wenn ich das Haus für Sie verkaufe, werden wir beide daran verdienen.«

      »Sie müssen es doch noch schätzen.«

      War dieser Mann kompetent? Martin sah ihn kritisch an.

      »Natürlich können wir die offizielle Schätzung durchführen. Ich weiß, normalerweise macht man das vorher. Ich hatte gestern nur den Eindruck, Sie hätten es eilig mit dem Verkauf, weshalb ich dachte, die Interessenten könnten ja schon einmal einen Blick auf das Objekt werfen, aber davon abgesehen …«, Herr Richter legte die Stirn in Falten , »… das Grundstück, die Lage, ich schätze um die 350.000 bis 450.000 Euro.«

      Martin dividierte spontan 400.000 Euro durch vierzig verbleibende Lebensjahre. Zehntausend Euro jährlich würden nicht reichen zum Leben. Wie hoch würde die Rente ausfallen, wenn er jetzt seine Laufbahn abbrach? Schon alleine die Miete für seine Maisonettewohnung stieg kontinuierlich.

      Die Familie wollte nun das Haus von innen sehen.

      »Wie schön ist diese altertümliche Küche. Fast wie im Museum«, sagte die Frau.

      »Ich schaue mich mal oben um«, rief eines der Kinder. Ein Mädchen. Martin schätzte sie auf acht Jahre.

      Da es keiner sonst tat, ging er ihr hinterher.

      »Wo bist du?«, rief er vom Flur aus.

      »Hier«, kam es aus seinem ehemaligen Kinderzimmer.

      Mit einem mulmigen Gefühl näherte Martin sich der offen stehenden Tür.

      »Wenn ich hier wohne, wird das mein Zimmer«, hörte er das Mädchen sagen.

      Er umklammerte den Türgriff fest, trat aber nicht ein. Das Mädchen lachte. Es war ein fröhliches Lachen, und obwohl es von einem Kind kam, erinnerte es ihn an das Lachen seiner Mutter. Man lacht nur mit dem Herzen gut.

      Martin sah die abendlichen Kissenschlachten vor dem Vorlesen. Vor dem Eintragen besonderer Worte in das Büchlein. Er musste das Haus noch einmal absuchen. Vielleicht fand er die Wort-Schätze doch noch.

      »Herr Wachs?«

      Das war die Stimme Herrn Richters, die sich gegen all die anderen Stimmen durchsetzte.

      »Ich komme.«

      »Ich denke, wir können die Besichtigung beenden«, sagte Herr Richter, als Martin gerade die letzte Stufe erreichte.

      »Die Leute haben doch noch gar nicht alles gesehen.«

      »Nicht nötig. Das Haus ist alt und marode«, sagte der Familienvater.

      »Dann wollen Sie es sowieso nicht?«, fragte Martin und spürte eine eigenartige Erleichterung.

      »Das Haus würden wir abreißen. Renovieren lohnt sich nicht. СКАЧАТЬ