Zeit verteilt auf alle Wunden. Birgit Jennerjahn-Hakenes
Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Zeit verteilt auf alle Wunden - Birgit Jennerjahn-Hakenes страница 8

Название: Zeit verteilt auf alle Wunden

Автор: Birgit Jennerjahn-Hakenes

Издательство: Автор

Жанр: Контркультура

Серия:

isbn: 9783898019088

isbn:

СКАЧАТЬ nicht wie gewohnt um sieben Uhr das Lehrerzimmer betrat. Wenn er jetzt tot umfiele, wer käme zu seiner Beerdigung? Ihm fielen drei Menschen ein: Paule, Frau Schlott und eventuell Hendrik. Da konnte man ja nicht einmal von Trauergemeinde reden. In der Stimmung, in der er nun war, konnte er sich gut um die Beisetzung seiner Großmutter kümmern. Sie wollte verbrannt und ihre Asche sollte anonym verstreut werden. Das ganze Prozedere, finanzielle Mittel und nötige Unterschriften hatte sie bei Dr. Deinig hinterlegt. Martin würde damit nicht viel zu tun haben, und er wollte bestimmt nicht dabei sein. Großmutter war nach dem Unfalltod von Martins Eltern vom Glauben abgefallen. Vielleicht wäre es einfacher gewesen, sie hätte sich an einen Gott klammern können. Vielleicht hätte dieser Gott ihr zugeflüstert, dass ihre Tochter in Martin weiterlebte. Vielleicht wäre das Aufwachsen bei ihr dann von Wärme durchzogen gewesen. So war es nicht gekommen. Und auch Martin glaubte an keinen Gott. Religion. Das war etwas für schwache Menschen. Für Menschen, die ihr Schicksal nicht ertragen wollten oder konnten.

      Vor dem Haus angekommen, grüßte ihn ein Nachbar. Martin hätte nicht einmal sagen können, in welchem Stockwerk dieser Mann wohnte, geschweige denn, wie er hieß. Stadtleben bedeutete Anonymität. Er betrat seine eigenen vier Wände, hängte die Jacke an den Haken, suchte die Unterlagen des Notars heraus und führte ein paar Telefonate, bei denen es um Großmutters letzten Willen bezüglich der Beisetzung ging. Dann zog er den Stecker aus dem Telefon und setzte sich vor den Fernseher. Es gehörte zu seinen Gewohnheiten, die Sieben-Uhr-Nachrichten im ZDF zu schauen. Bei Gewohnheiten sollte niemand unterbrochen werden. Immerhin gab es Hendrik auf dem Anrufbeantworter. Und der könnte wieder anrufen.

      Die Nachrichten gaben nicht viel her. Ein Busunglück in Spanien, irgendwelche Fußballergebnisse aus der zweiten Liga, dabei interessierte ihn nicht einmal die erste und eine Wettervorhersage, die von freundlichen Aussichten sprach. War es nicht jeden Abend das Gleiche? Ein Unglück, Fußball und das Wetter. Was sich änderte, waren die Unglücksorte, die Spieler, die Temperaturen. Mürrisch schnappte er die Fernbedienung, schaltete den Fernseher ab und fand, dass der Punkt an ihn ging.

      Drittes Kapitel

       Der Panther im Haus

      Der Dienstag war vier Stunden alt und Martin wälzte sich wach im Bett. Um fünf gab er auf. Es wollte ihm nicht gelingen, auszuschlafen. Um kurz vor sechs verließ er die Wohnung und ging zum Bäcker um die Ecke. Ein warmer Duft nach Süße empfing ihn.

      »Was darf’s sein?«, fragte die Frau hinter der Theke. Zwar lächelte sie, aber mit der Bäckertüte in der einen und einer Zange für Gebäck in der anderen Hand signalisierte sie Martin trotzdem, dass er sich beeilen solle.

      Martin zögerte. Die Auswahl war so groß. Er bestellte schließlich einen Mohnstreusel und eine Laugenbrezel.

      Zu Hause gab er einen Löffel Kaffeepulver mehr als sonst in den Filter. Das Aroma passte wunderbar zu dem Gebäck. Während der Kaffee durch den Filter in die Tasse tropfte, breitete er die Tageszeitung auf dem Esstisch aus. Danach deckte er sich den Tisch. Es war irgendwie wie in den Ferien. Aber dennoch fühlte es sich anders an. Martin musste an den Panther von Rilke denken.

       Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt.

      Noch nie hatte er sich gefühlt wie jetzt. Die Zukunft erschien ihm auf einmal wie ein großes Loch.

      Als er zehn Jahre alt gewesen war, starben seine Eltern, und von einem auf den anderen Tag war alles anders gewesen. Als er achtundzwanzig Jahre alt gewesen war, hatte ihn seine erste große Liebe Angelika verlassen. Und wieder war von einem auf den anderen Tag alles anders gewesen. Nun war seine letzte Familienangehörige seiner ohnehin kleinen Familie gestorben, und das »Anders« war ein neues Anders. Ein so noch nie gefühltes Anders. Er fühlte sich frei und einsam zugleich, das fand er mehr als seltsam.

       Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben eine Welt.

      Er biss in den Mohnstreusel. Der Zuckerguss klebte an seinen Fingern. Er leckte ihn ab. Eine Welt.

      Eine Welt. Seine Welt.

      Auf einmal fragte er sich, wie viel Zeit ihm eigentlich noch blieb. Der Gedanke, dass es zu wenig sein könnte, ließ ihn nicht stillsitzen, und er fuhr zum Haus seiner Großmutter. Spontan klingelte er bei Frau Wondra, um sich zu bedanken, weil sie das Haus gehütet hatte, aber sie öffnete auch nach viermaligem Klingeln nicht. Martin hielt sein Ohr an die Tür, hörte aber nichts. Er ging und schloss Großmutters Haus auf. Es ist mein Haus! Durch den Flur ging er ins Wohnzimmer, zog erst den Vorhang beiseite, schob dann die Terrassentür auf, trat hinaus und sah vom Garten aus zu Frau Wondra hinüber. Auch hinter dem Haus konnte er sie nirgends entdecken. Er würde später noch einmal klingeln. Er ging wieder ins Haus, ließ aber die Terrassentür offenstehen, weil er das Gefühl hatte, Luft täte ihm und dem Haus gut. Dann ging er zurück in den Flur und von dort aus in das andere Zimmer, das an die Terrasse grenzte – das Arbeitszimmer seiner Mutter. Wie lange sie auch schon tot war – für ihn war es noch immer ihr Arbeitszimmer. Hier hatte sie früher gesessen und die Arbeiten ihrer Schüler korrigiert. Mit welcher Freude und Geduld sie die Aufsätze und Diktate gelesen hatte, nie war sie müde geworden, sich zu überlegen, wie sie die Schreibfehler ausmerzen, wie sie ihren Schülern Freude am Deutschunterricht, an der Sprache und ihren Möglichkeiten vermitteln konnte. Sie war eine gute Lehrerin gewesen, Martin hatte das nicht fortsetzen können, obwohl das seinerzeit sein größter Wunsch gewesen war, ein guter Deutschlehrer zu sein.

      Die letzten Male hatte er nur einen flüchtigen Blick in das Zimmer geworfen, jetzt sah er sich um; sah hin; schaute auf Mutters Sessel.

      Immer, wenn Mutter ein paar Stunden am Schreibtisch gearbeitet hatte, belohnte sie sich mit dem Ausruhen im Sessel. Wobei das Ausruhen für sie im Lesen bestand. Lesen und aus dem Fenster schauen. »Ich verdaue die Worte, mein Schatz«, hatte sie Martin geantwortet, wenn er sie fragte, warum sie so oft nach draußen schaue; dann legte sie die Lektüre auf den Schoß und breitete die Arme aus, damit sich Martin an sie kuscheln konnte.

       Lies mir vor.

       Das ist ein Buch für Erwachsene.

       Lies, ich werde auch mal ein Erwachsener sein.

      Er musste sich setzen. Aber nicht auf den Sessel, dessen leeren Anblick er kaum ertragen konnte. Er setzte sich an den Schreibtisch, den Großmutter jahrelang für sich genutzt hatte und räumte alles, was auf ihm lag, auf den Fußboden – eine altmodische Stiftablage, die längst ergraut war, einen Stapel Notizblätter, die hässliche Gummiunterlage in verblasstem Rot, die den antiken Tisch schützen sollte. »Hallo«, sagte er zum Schreibtisch, auf dem er nur das gerahmte Bild seiner Mutter stehen ließ, das sie lachend zeigte als sehr junge Frau. Er nahm an, dass es aus einer Ära stammte, in der er noch nicht gezeugt worden war. Es wunderte ihn nicht, dass Großmutter ein Bild gewählt hatte, das das Leben vor seiner Zeit zeigte.

      Melancholie flog ihn an. Bevor sie ihn ganz packen konnte, hörte er das Geräusch eines Schlüssels, der in ein Schloss gesteckt wurde. Und noch bevor er es als ein Türaufschließen erkannte, rief Frau Wondra: »Ich habe dir Apfelkuchen gebacken!« Martin fuhr vom Schreibtisch hoch und ging in den Flur. Frau Wondra streckte ihm einen Teller entgegen.

      »Iss, mein Junge«, sagte sie.

      Martin bedankte sich und nahm ihr den Teller ab.

      Frau Wondra wandte sich um, zog den Schlüssel aus der offen stehenden Haustür und reichte ihn Martin. »Den brauche ich nicht mehr, du bist nun Hüter des Hauses.«

      Die Begegnung hatte ihn aufgewühlt. Wie kam Frau Wondra auf die Idee, dass er nun der Hüter des СКАЧАТЬ