Zeit verteilt auf alle Wunden. Birgit Jennerjahn-Hakenes
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Название: Zeit verteilt auf alle Wunden

Автор: Birgit Jennerjahn-Hakenes

Издательство: Автор

Жанр: Контркультура

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isbn: 9783898019088

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СКАЧАТЬ vergangenen Jahre weggedacht und war am Vorabend seines sechsundfünfzigsten Geburtstages am 27. März schlafen gegangen, als sei es der Vorabend seines zehnten Geburtstages, an den er sich so gerne erinnerte.

      Als er die Küche betrat, hörten die Kirchenglocken auf zu läuten.

      Er lauschte. Unwillkürlich hielt er inne. Endlich war es still. So still, wie er es sich wünschte. Sein Blick fiel auf die Kaffeehandmühle auf der Fensterbank. Ob sie noch funktionierte? Martin reinigte die Mühle und betrachtete sie wie ein Museumsstück. Seine Gedanken glitten in eine andere Zeit. Er sah seine Großmutter am Küchentisch sitzen, die Mühle auf dem Schoß; er hörte seine Mutter schwärmen: »Der Kaffee schmeckt am besten, wenn er handgemahlen ist.« Wie damals fühlte er sich geborgen, als er nach etwas Betteln die Kaffeemühle bekam und mahlen durfte.

      Heute musste er nicht mehr betteln. Und seinen sechsundfünfzigsten Geburtstag würde er nicht feiern, denn seit dem Unfall erschien ihm das Feiern von Lebensjahren auf immer pietätlos. Zugegeben entfloh er so auch der Trauer, der er sich nicht stellen wollte, denn sie würde die Einsamkeit in ihm hervorholen, und davor hatte er am meisten Angst. Er schluckte, stellte die Mühle auf die Arbeitsplatte und holte die Bohnen aus dem Kühlschrank. Das Geräusch beim Einfüllen weckte seine Lebensgeister. Nun setzte er sich und nahm die Mühle zwischen die Beine wie früher. Er drehte. Erst ging die Kurbel schwerfällig und quietschte. Dann spürte er, wie sie den Widerstand aufgab und mit jeder Umdrehung leichter ging. Das Lachen seiner Mutter erfüllte wieder diesen Raum und breitete sich aus wie der Kaffeeduft. Beides bescherte Martin Bilder, die das Haus mit Leben füllten. Ihm fielen die Worte von Frau May ein: Ich mag Dinge, die überlebt haben. Der Satz erinnerte ihn an einen Roman und er fragte sich, ob sie ihn auch gelesen hatte? Während er über den Titel nachdachte, holte er den Porzellanfilter aus dem Schrank und eine Tasse, auf der eine Rose aufgedruckt war. War das nicht die Lieblingstasse seiner Mutter gewesen? Er stellte den Wasserkocher an, legte eine Tüte in den Filter, kippte den gemahlenen Kaffee hinein und goss das Wasser auf.

      Dann lief er barfuß mit der Kaffeetasse in der Hand über die Wohnzimmerdielen. Jetzt, da er die Teppiche entfernt hatte, knarzten sie ordentlich. So wie es sich für ein altes Haus gehörte, dachte er und setzte sich in den Fernsehsessel. Noch hatte er den Lesesessel seiner Mutter nicht hierhergeholt.

      Er wollte gerade den ersten Schluck genießen, da klingelte es, also stellte er die Tasse auf den Beistelltisch neben dem Sessel ab und ging an die Tür.

      »Ich hab’s eben grad vom Pfarrer erfahren«, sagte Frau Wondra.

      »Was?«

      »Dass Irmgards Leiche verbrannt und ihre Asche anonym verstreut wurde.«

      »Das war ihr Wunsch.«

      »Du hast ihr einen Wunsch erfüllt. Gut.«

      Martin versuchte, in ihrem Blick zu lesen. Offensichtlich lag ihr etwas auf dem Herzen.

      »Erfülle dir deine Wünsche. Irmgard hätte das gewollt.«

      Zurück im Wohnzimmer, betrachtete er die leeren Kleiderständer. Mit einem Mal war ihm danach, die Terrassentür aufzureißen und Morgenluft hereinzulassen. Er tat es, trat nach draußen und schaute in die Ferne; sah sich an seinem zehnten Geburtstag am Küchentisch die Kerzen auspusten.

       Schau, Mama, alle aus bis auf eine.

       Na, da musst du noch üben, mein Schatz, es werden jedes Jahr mehr.

      Stärker war seine Sehnsucht nach ihr geworden, und so schmerzhaft wie sein Leben nach dem Unfall. Jetzt blieb ihm nur der Schluck Kaffee aus handgemahlenen Bohnen aus ihrer Lieblingstasse, mit dem er die Traurigkeit herunterkippen wollte. Er ging wieder hinein, nahm die Tasse vom Tisch und merkte, dass der Kaffee kalt geworden war. Aber der Morgen war noch immer jung, er konnte sich einen neuen kochen.

       Erfülle dir deine Wünsche. Irmgard hätte das gewollt.

      Als er den ersten Schluck genießen wollte, läutete es schon wieder an der Tür. Das darf doch nicht wahr sein! Draußen stand Frau May mit der Kittelschürze über dem Arm und strahlte ihn an.

      »Wollen Sie die zurückgeben?«

      »Ja.«

      Unwillkürlich trat er einen Schritt zurück.

       Und deswegen kommen Sie extra noch einmal hierher? Ich brauche keine Erinnerung an meine Großmutter, Sie hätten die Schürze behalten können.

      Frau May deutete auf die Tasse in seiner Hand. »Das duftet ja nach Kaffee bei Ihnen. Wahnsinn! Wie in einem alten Kaffeehaus. Frisch gemahlen, oder?«

      »Ich trinke meist frisch gemahlenen.« Martin streckte die freie Hand nach der Schürze aus.

       Auf was wartete Frau May?

      »Darf ich hereinkommen?«

       Nein.

      »Ich muss Ihnen etwas zeigen«, sagte sie und schob sich schmunzelnd an ihm vorbei in den Flur, schielte ins Wohnzimmer und rief: »Ziehen Sie hier eigentlich ein?«

      Martin begann zu befürchten, dass auch sie Interesse an dem Haus haben könnte und die Kittelschürze nur ein Vorwand war.

      »Was ist denn jetzt damit?«, fragte er und deutete auf das Kleidungsstück, das nach wie vor über Frau Mays Arm baumelte.

      Frau May marschierte ins Wohnzimmer und hängte die Schürze auf einen der Kleiderständer. Dann stellte sie sich daneben und verschränkte die Arme. Sie lächelte und wirkte wie jemand, der einem anderen einen lang ersehnten Beweis liefern konnte.

      »Langen Sie mal in die Tasche!«

      »Bitte?«

      »Tun Sie’s!«

      Er dachte an seine Lieblingslektüre aus Kindertagen. Wie die Dollarzeichen in Dagobert Ducks Augen sah er jetzt unzählige Ausrufezeichen in Frau Mays Blick aufleuchten. Er war drauf und dran, sie hinauszuwerfen, aber ihr Blick verwirrte ihn zu sehr, als dass er die richtigen Worte fand.

      »Tun Sie’s, bitte, Sie werden es nicht bereuen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie das verschenken wollten.«

      Was sollte das? Zögerlich langte er in die große Kittelschürzentasche. Noch bevor er den Gegenstand herauszog, wusste er, was es war: das Büchlein!

      So oft hatte er früher über den samtenen Einband gestrichen und die einzelnen Blütenblätter der aufgedruckten roten Gerbera nachgefahren. So oft hatten seine Finger diesen Schatz berührt, dass sich dieses Gefühl wie ein unveränderbarer Code in sein Gehirn eingebrannt hatte. Jetzt hielt er es in den Händen.

      »Ich dachte, das möchten Sie vielleicht wiederhaben.«

      Martin war nicht in der Lage, ihr zu antworten. Er wollte jetzt nur noch alleine sein.

      Fassungslos stand er da, sah auf das Büchlein und hielt es so fest, als bestünde die Gefahr, eine unsichtbare Kraft könne es ihm wieder entreißen. Er spürte eine sanfte Berührung an seinem Arm, vernahm dann das Geräusch leiser Schritte auf Holz und dann kaum hörbar das Öffnen und Schließen der Haustür.

      Erst als er wieder ganz allein war, strich СКАЧАТЬ