Zeit verteilt auf alle Wunden. Birgit Jennerjahn-Hakenes
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Название: Zeit verteilt auf alle Wunden

Автор: Birgit Jennerjahn-Hakenes

Издательство: Автор

Жанр: Контркультура

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isbn: 9783898019088

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СКАЧАТЬ man sich wieder.«

      »Bärbel?«, erstaunt sah Martin zu der großen Frau auf.

      »Überrascht?«

      »In der Tat, ich dachte …«

      »Das macht nichts. Ich will dich wirklich nicht lange stören. Darf ich hereinkommen?«, fragte sie.

      Martin wich vor ihrer Körperfülle zurück. Er konnte gar nicht so schnell reagieren, da war sie schon im Wohnzimmer und steuerte die Couch an. Um nicht gänzlich das Gefühl zu haben, nicht mehr Herr im eigenen Haus zu sein, sagte Martin: »Setz dich doch.« Dann stand er hilflos vor ihr. Sie wirkte selbst im Sitzen noch wie ein Riese.

      »Ich habe dir auf dem Flohmarkt hinterhergerufen, aber du hast mich wohl nicht gehört«, begann Bärbel. Dann stockte sie und sah sich um. »Sag mal, ziehst du jetzt wirklich hier ein? Das würde mich ja freuen.« Sie machte eine Pause, scheinbar hatte sie den Faden verloren. Aber sie nahm ihn wieder auf.

      »Schon komisch, wie man sich fühlt, wenn man seine Klassenkameraden aus der Grundschule wieder trifft. Mir geht es so, dass ich mich gleichzeitig jung und alt fühle.«

      »Was führt dich zu mir?«

      »Du bist Deutschlehrer, oder?«

      »Wieso?«

      »Es geht um Folgendes: Ich engagiere mich hier im Dorf für die Flüchtlinge, und wir suchen händeringend Leute, die diesen armen gestrandeten Menschen Deutsch beibringen. Ich weiß, du müsstest deine Freizeit opfern, aber ich sag dir, diese Menschen sind so dankbar. Ich kann dir Geschichten erzählen … unglaublich, was die alles durchgemacht haben.« Bärbel holte Luft. »Das geht mir ans Herz, und ich kümmere mich um so vieles wie zum Beispiel das Beschaffen von Möbeln für die Flüchtlingsunterkunft hier …«

      Martin nutzte die Gelegenheit. »Braucht eure Organisation noch Möbel?«

      »Ja, aber deswegen bin ich nicht hier.«

      Martin machte eine ausladende Handbewegung, die den Raum erfasste. »Könnt ihr alles haben«, sagte er. »Auch das, was draußen auf der Terrasse steht. Umsonst.«

      »Ach ja?« Bärbel stutzte und sah sich um. »Das ist sehr großzügig von dir, danke schon mal, ich weiß das zu schätzen. Das können wir bestimmt gebrauchen.«

      »Ein Schlafzimmer hätte ich auch noch und …«

      »Gerne Martin, wichtiger wäre aber der Unterricht.«

      »Wichtig ist ein Dach über dem Kopf«, entgegnete Martin.

      »Da hast du auch wieder recht. Wegen der Möbel schick ich dir meinen Mann vorbei. Noch mal zum Unterricht. Sicher könntest du nur abends, morgens bist du ja selbst in der Schule. Ein-, zweimal die Woche würde auch schon reichen für den Anfang.«

      »Bärbel …«

      »Denk darüber nach, ich bitte dich!«

      Er wollte nicht darüber nachdenken, brachte eine Absage aber jetzt nicht über die Lippen, weil er Bärbels Engagement honorierte. Ohne Menschen wie sie funktionierte die Welt eben nicht. Ihm hatte sie früher in Mathe geholfen, da war sie unschlagbar gewesen. Er wollte jetzt nicht so unfreundlich sein und ihr eine Absage erteilen, weshalb er sie vertröstete. »Ich denke darüber nach.« Zu seiner Erleichterung erhob sich Bärbel daraufhin und ging zur Haustür.

      »Ich komm dann wieder vorbei. Und den Achim schick ich dir auch.«

      »Achim?«

      »Meinen Mann. Wegen der Möbel.«

      »Gib mir besser deine Telefonnummer, ich weiß nicht, wann ich da bin.« Er wollte nicht überrascht werden.

      »Martin, wir leben hier auf dem Dorf. Ich suche die Leute lieber gleich auf, anstatt zu telefonieren. Ist doch viel persönlicher, findest du nicht?«

      Persönlich? Martin hatte hierzu seine eigene Meinung.

      »Auf Wiedersehen«, sagte er und schloss die Tür hinter Bärbel. In den letzten Tagen hatte so oft jemand etwas von ihm gewollt, keine Spur von ruhigem Landleben. Er fragte sich, ob es eine gute Idee gewesen war, hier einzuziehen. Es ging zu wie im Taubenschlag. Kurz schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, dass es von Vorteil war, die Stadtwohnung noch nicht schriftlich gekündigt zu haben, und es noch drei Tage bis zum geplanten Umzug dauern würde. Bärbel verhielt sich, als läge ihre gemeinsame Grundschulzeit erst ein paar Tage hinter ihnen. Man konnte doch nicht einfach so viele Jahre übergehen. Aber immerhin tat sich die Gelegenheit auf, sehr viel schneller als gedacht, Großmutters Möbel loszuwerden und damit auch noch einen guten Zweck zu erfüllen. Und im gleichen Atemzug würde er Bärbel beibringen, dass es für ihn nicht infrage kam, Geflüchtete zu unterrichten. Mit dem Zeitmangel würde er sich herausreden, den ein Umzug mit sich brachte. Früher oder später würde sie verstehen. Und dann würde Ruhe einkehren. Endlich.

      Martin ging durch alle Zimmer des Hauses, um zu schauen, welche Möbel er behalten wollte. Wahrscheinlich lief es darauf hinaus, dass er die Küche behalten würde, auch wenn sie schon sehr alt war, außerdem den Lesesessel seiner Mutter und den Schreibtisch. Das alles waren Einrichtungsgegenstände, denen seine Mutter Leben eingehaucht hatte. Er ging in sein ehemaliges Kinderzimmer, öffnete den Kleiderschrank, um nachzuschauen, ob er Frau May, die vielleicht nachher käme, nicht noch das ein oder andere Stück mitgeben konnte. Seinem Geschmack entsprachen die vielen Winterjacken, Mäntel und Strickpullover nicht, aber ihm hatten ja auch die Kleider nicht gefallen, die er auf dem Flohmarkt angeboten hatte. Zumindest nicht für so eine adrette Frau, wie es Frau May war. Dann ging er wieder nach unten, wo ihm im Flur die leere Wodkaflasche auffiel. Da er nicht den Eindruck eines Säufers hinterlassen wollte, nahm er die Flasche und ging damit in die Küche. Nach kurzem Überlegen öffnete er den Abstellraum, um sie dort loszuwerden, da fiel ihm die hässliche, altbackene Kittelschürze seiner Großmütter ins Auge. Die könnte er auch mit der Winterkleidung in die Altkleidersammlung geben, dachte er und nahm sie heraus, da klingelte es. Er ging an die Tür. Diesmal stand tatsächlich Frau May vor ihm. Schuldbewusst lächelte sie ihn an.

      »Ich wollte Ihnen doch etwas geben für die Kleider«, sagte sie und hielt ihm einen Schein hin.

      Martin sah ihr in die Augen. »Müssen Sie doch nicht.« Hatte sie vorhin schon diesen Lippenstift getragen, fragte er sich. Er hatte es gar nicht mehr so eilig, Frau May loszuwerden und war über sich selbst irritiert. »Halten Sie mal bitte?« Er reichte ihr die Kittelschürze, um seinen Geldbeutel aus der Hosentasche zu ziehen.

      »Mein Gott, ist die hässlich!« Frau May lachte laut, besah sich die Schürze genauer und wandte sich wieder an Martin. »Aber meine Oma würde sie lieben.«

      Martin fiel auf, dass sie auch mit den Augen lachte. »Dann schenke ich sie Ihnen«, sagte er und musste grinsen.

      »Vielen Dank. Das ist zu nett.«

      »Ich hätte noch ein paar Kleider«, sagte er.

      »Schaue ich mir gerne an.«

      Frau May trat in den Flur, Martin nahm ihr kurzerhand die Kittelschürze wieder ab und hängte sie über das Treppengeländer. Sie fiel herunter, etwas steckte wohl in der Tasche, Martin wollte nachsehen, aber Frau May stand schon vor der Treppe, und er bat sie nach oben. Die Kleidungsstücke wollte sie nicht, weil sie ein Mottenloch entdeckt hatte und nicht Gefahr laufen wollte, ihrer Großmutter СКАЧАТЬ