Название: Mein Gotland
Автор: Anne von Canal
Издательство: Bookwire
Жанр: Книги о Путешествиях
isbn: 9783866483873
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Geh nicht so dicht ran, mahnt meine Mutter im Vorbeigehen, und dann bleibt sie hinter mir stehen und schaut still eine Weile selbstvergessen mit.
Doch ich kann gar nicht dicht genug dran sitzen, will am liebsten hineinkriechen in die Flimmerkiste und mit all den Kindern spielen, die dort drinnen wohnen. Will ihnen zu Hilfe eilen und sie warnen, wenn Gefahr aus einem Hinterhalt droht, wenn ich Dinge sehe, die ihnen entgehen – warum hört mich auch niemand, wenn ich doch: Achtung, hinter dir!, rufe?
Wie ich das Fernsehen liebte.
Es brachte meine ausgeprägte Sucht nach Geschichten auf eine neue Ebene. Neben dem täglich Vorgelesenen und dem abendlich Erzählten, dessen Protagonisten ohnehin den Großteil meiner Gedankenwelt bevölkerten, setzten sich die bewegten Bilder, Stimmen und Erkennungsmelodien zu unwiderstehlichen Lebenswelten zusammen, die ich nicht immer von meiner eigenen unterscheiden konnte. Und wollte.
Ich baute in meinem Kopf Paläste, Burgen und Häuser der Erinnerung für sämtliche Fernsehhelden meiner Generation. Pippi, Michel, die rote Zora, Silas, Timm Thaler, Luzie und Pan Tau. Sichere Räume, in denen sich nichts veränderte, wo die Parameter, die Bedingungen und das Wetter verlässlich dieselben blieben. Genau wie ich und die Kinder auf dem Zelluloid.
Komm rein, sagt Bobbo und tritt vor mir durch die Tür im Zaun.
Da ist das Haus. Bekannt und fremd.
Blickt mir ruhig aus seinem eingezäunten Gehege entgegen, wie ein altes Tier im Zoo. Umringt von Zuschauertribüne, Restaurant und Piratenschiff steht es da und ist ganz das Gegenteil von anarchischer Freiheit.
Ich hätte es lieber drüben im Wald gefunden. Wild.
Bobbo schließt die Haustür auf.
Voilà, sagt er, und sein Tonfall meint nicht die Villa Villekulla, sondern alles andere. Voilà deine Erinnerung, voilà deine Illusionen, voilà der lang verlorene Teil von dir, voilà dein alter Traum. Voilà, da guckst du.
Das Kind macht große Augen, als es den Fuß über die Schwelle setzt. Ist bereit zu staunen, zu glauben.
Es ist alles da, wo es hingehört.
Auf der Hutablage liegt der große alte Taucherhelm, im bekannten Bett – die Füße auf dem Kissen, die Decke über den Kopf gezogen – Pippi. Im Halbdunkel gehe ich langsam durch die Räume. Esszimmerstühle, Schrank und Sofa, Lampe. Ich erkenne die Dinge genau wieder, lasse die Fingerspitzen vorsichtig über die Wände streichen, gebe dem Schaukelstuhl einen leichten Schubs und bemerke vor lauter Bestätigung den Durchzug in meinem Kopf nicht.
Eine Tür geht auf und eine andere fällt zu. Es ist alles zum ersten Mal da und gleichzeitig für immer weg.
Nicht eine Sekunde der Pippi-Langstrumpf-Filme wurde im Haus gedreht. Sämtliche Innenszenen sind Studioaufnahmen aus Stockholm.
Hier haben Inger, Maria und Pär nie getanzt, geklettert, gebacken.
Die Möbel und Gegenstände, die die Zimmer im Erdgeschoss bevölkern, sogar ein paar Originalutensilien vom Studioset, wurden nachträglich zusammengetragen und hier arrangiert. Mit unendlicher Mühe und Liebe zum Detail hat man versucht, etwas wiederherzustellen, was es nie wirklich gab. Die Kulisse einer Kulisse, die Illusion einer Illusion. So authentisch wie unmöglich.
Das Licht geht an. Deckenlampen, indirekte Beleuchtung, Strahler erhellen auf einen Schlag den Raum. Eine Tür knarrt laut. Schritte. Ich schaue mich um, aber Bobbo ist nicht mehr da. Dann Annikas flüsternde Stimme: Ush, vad hemskt. Uh, wie unheimlich, sollen wir da wirklich reingehen?, bevor in voller Lautstärke die bekannte Titelmelodie über mich hereinbricht. Aus allen Ecken singt es ungebremst fröhlich: Här kommer Pippi Långstrump!
Die Show läuft, Bobbo, der Zauberer, hat das Haus geweckt. Nur für mich. Der Atem steht mir wolkig vor dem Mund – vor Verwunderung, oder welches Gefühl es auch sein mag, das sich einen Weg bahnt. Ich staune wirklich, aber das Kind mit den großen runden Augen ist fort. Vielleicht hat es sich im Wald versteckt, an der Visborgsslätt und läuft völlig außer Puste die Allee entlang.
Ich bin jetzt Besucherin, nicht mehr Sucherin.
Stolz wie ein Vater zeigt Bobbo mir die Attraktion mit ihren Finessen, führt mich von Raum zu Raum und erklärt, wie hier im Sommer das Leben über Tisch und Bänke tobt. Ich nicke und nicke und weiß nicht, was ich sagen soll.
Unser Rundgang endet in einem Hinterzimmer, in dem die Theatergarderobe untergebracht ist. Wie ein Eingeständnis von Realität sitzen vor einem großen Spiegel drei leicht verrupfte Pippi-Perücken auf weißen, augenlosen Styroporköpfen. Der Anblick erleichtert mich.
Später bleiben wir noch einen Moment draußen stehen, betrachten das Haus, als wäre es eine Immobilie, die er mir gerade zum Verkauf angeboten hat.
Er sagt: So sieht es also aus.
Ich zögere.
Die Farben, sage ich. Dieses Gelb und Rosa, und das türkisfarbene Dach. War das schon immer so? Ich kann mich überhaupt nicht erinnern, dass das Haus solche grellen Farben hatte.
Er schaut mich an, lächelt und sagt: Tja, du hast wahrscheinlich Schwarz-Weiß geschaut.
Dass ich darauf nicht gekommen bin!
Ich schlage mir die Hand vor die Stirn.
Und behalte für mich, dass mein Schwarz-Weiß immer ziemlich bunt war.
Kaum jemand hier kennt mich.
Hier bin ich niemand und jeder.
Im Laden ein Portemonnaie, in der Bibliothek ein übers Buch gesenkter Kopf, auf der Straße eine schwarze Jacke, im Kino ein dunkles Profil, in der Nacht ein unbekannter Traum.
Ich bin eine Stimme in einer fremden Sprache, eine braunäugige Frau mit einem Muttermal im Gesicht und dunklen Locken drum herum, über die man nichts weiß.
So ist es mir am liebsten. Nicht immer, aber hier.
Nach Gotland reise ich mit leichtem Gepäck.
Ich reise ohne Vergangenheit und ohne Probleme, ich reise ohne Verbindlichkeit.
Ich werde eine Insel.
Eine Grenzlandschaft zwischen Fiktion und Wirklichkeit, wie so viele Inseln vor mir.
Ich verlasse mich, finde das Unbekannte vor und damit überhaupt die beste Möglichkeit zum Schreiben.
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