Название: Mein Gotland
Автор: Anne von Canal
Издательство: Bookwire
Жанр: Книги о Путешествиях
isbn: 9783866483873
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In mir wohnte vielmehr eine Bedenken tragende Annika, mit Socken in den Sandalen und farblich zur Hose passenden T-Shirts, die das verrückte Dasein, das Pippi kreierte, gerne teilte, aber abends lieber wieder ins sichere Zuhause ging und sich die Ohren wusch.
Die meisten anderen wollten Pippi sein. Behaupteten sie.
Traumtänzer, Hochstapler, Angeber! Niemand kann Pippi sein!
Niemand außer der kleinen Inger Nilsson, die als Neunjährige ganz freimütig und unbedarft einer Kunstfigur ihr Gesicht lieh und es niemals mehr zurückbekam. Ihr Lächeln, ihre Grübchen gehören einer anderen, seit über fünfzig Jahren schon. Ein Leben hinter einem entfremdeten Gesicht, wie muss das sein?
Ich bin es! Inger! Ich bin Inger, Inger, Inger Nilsson!, ruft sie allmorgendlich in den vom Duschen beschlagenen Spiegel, doch sobald sich der Nebel lichtet und das Spiegelbild langsam auftaucht, verhöhnt es sie, und die Welt straft sie Lügen, kaum dass sie das Haus verlässt, und erwidert erbarmungslos: Ich kenne keine Inger. Du bist Pippi. Wer sonst sollte denn Pippi sein? Du trägst doch ihr Gesicht!
Und Inger senkt den Kopf und wünscht sich ein neues Antlitz, eine neue Chance.
Doch von dieser späteren Verzweiflung wusste sie damals nichts, als sie das Casting gewann. Obwohl sie eher ängstlich und schüchtern war, ließ sie sich wieder und wieder von der aggressiven Meerkatze bepinkeln und kratzen; sie lernte reiten, zungenbrechende Worte und komplizierte Sätze und schwamm eine Weile zu Recht ganz oben auf der schäumenden Woge der Begeisterung und des Erfolgs, des noch unbekannten, lockenden Ruhms, der öffentlichen Liebe, die ihr – also Pippi – entgegengebracht wurde.
Ein Sommermärchen.
Kaum war die letzte Klappe gefallen, verließ das Filmteam die Insel ebenso plötzlich, wie es sie eingenommen hatte; das Rampenlicht, das ganz Visby – seine brave Stadtmauer, seine Gassen, seine Häuser, seine Menschen – kurios in Szene gesetzt hatte, erlosch, und alles war wieder nur Stein und Alltag.
Und das Haus an der Visborgsslätt? P18?
Grell geschminkt und äußerlich herausgeputzt, stand es am Waldrand und wusste nicht, wohin mit sich.
Die Frau mit dem Hund winkt mir nicht zurück, sie geht einfach weiter durch froststarren Laubwald, der vorgibt, sich an nichts mehr zu erinnern.
Hat sie denn noch nie nach Spuren ihrer Kindheit gesucht? Hat sie noch nie gedacht, sie könnte etwas aufspüren, das ihr einmal sehr wichtig war? Hat sie noch nie gehofft, im Nachhinein etwas von sich zu begreifen und sich selbst dadurch ein bisschen näherzukommen? Etwas, das ganz am Anfang in ihrem dicken Gedächtnisbuch steht – diese ersten Seiten, die, auch wenn sie nicht mehr so gut lesbar sind, entscheidend waren für die Richtung ihrer Geschichte.
Ich winke noch ein bisschen weiter. Nicht mehr ihr, sondern der Zeit, dem Haus. Wie die Kinder damals.
Sie winkten, oder sie standen einfach da; an der Hand ihrer Eltern, mit offenen Mündern, schauten zu, wie die Villa Villekulla sich langsam von der Erde hob; dieses kunterbunte Haus, in dem sie eben noch so viel Spaß hatten, es knackste und quietschte und krachte im Gebälk, als wollte es aufgeben und auseinanderbrechen, zu alt für Abenteuer. Zu müde. Doch es hielt, es schwebte, dreißig Zentimeter über dem Boden vielleicht. Wer bitte hatte so etwas je gesehen? Ein schwebendes Haus?
Applaus brandete auf, Hurra! Hurra!, als es sich in Bewegung setzte.
Es begann zu schneien, leise und tanzend, während das Unfassbare passierte: Das Haus zog um.
Im Schildkrötentempo verließ es seinen Grund, den Ort, an dem es jahrzehntelang gestanden hatte; die Leitungen wie Wurzeln gekappt, nichts hielt es mehr hier.
Der kluge Geschäftsmann Kronefalk hatte es nach Ende der Dreharbeiten gekauft und vor dem Abriss bewahrt; er hatte andere, größere Pläne.
Die Lkws und Raupen keuchten unter der Last, die sie schleppten, und alle Zuschauer liefen mit, begleiteten dieses seltsame Ungetüm; zwei Kilometer, drei Kilometer, dann war das Ziel, dann war die Zukunft, dann war der Vergnügungspark Kneippbyn erreicht, wo die Villa Villekulla von nun an zum Erlebnis für jedermann werden sollte. Alle, Groß und Klein, trallallalla, lad ich zu mir ein.
Ein Riesenkrake erhebt sich aus einem hochpeitschenden Meer, um Schiffe und Menschen zu verschlingen, gleich nebenan reißt eine Schlange ihr Maul so weit auf, dass ganze Achterbahnzüge in ihrem Schlund verschwinden könnten – doch nichts dergleichen passiert. Im Novemberlicht, wenn keine bunten Lampen blinken, keine Musik aus den Lautsprechern gellt und niemand da ist, der sich fressen lassen oder gruseln könnte, niemand außer mir und ein paar Bauarbeitern, dann bleiben die wildesten Tiere zahnlose Sperrholztiger.
Das Sommerland ist eingewintert.
Ich gehe durch die Stille der ruhenden Fahrgeschäfte und geschlossenen Attraktionen, und obwohl ich gerade das Morbide und Brüchige so mag, beschleicht mich ein trauriges Wurstelprater- und Reeperbahngefühl: Wie wenig Vergnügen den Dingen selbst anhaftet, wenn kein amüsierwilliger Gast da ist.
Ich bin zu früh.
Hüpfend bewege ich mich vor der Rezeption auf und ab, während ich auf Bobbo warte, den König über diese Insel der Kurzweil. Hüpfend überlege ich mir Antworten auf die üblichen Fragen nach meiner Arbeit, eine überzeugende Begründung für mein Ansinnen, mitten im Winter Pippis Haus besichtigen zu müssen. Hüpfend bemerke ich, halb verdeckt von einem hohen Zaun und einem Hamburgerrestaurant im Diner-Stil, die unverkennbare Dachformation von P18. Zweifel macht sich breit.
Bobbo fährt mit dem Auto vor, reicht mir aus dem Fenster eine warme Hand.
Mein Herz klopft bang, als er kurz darauf mit einem mächtigen Schlüsselbund das Tor öffnet. Er fragt mich nichts. Wahrscheinlich weiß er auch so, was ich hier suche.
Sommer. Wochen wie ein einziger endloser Tag, sirrend von dicken schwarzen Brummern und jener süßen Langeweile, die nichts anderes ist als die missverstandene Freiheit, nichts zu tun, unterbrochen allein vom täglichen Betteln ums Kinderferienprogramm, dem ein, höchstens zwei Mal in der Woche – mehr ist ungesund – gnädig nachgegeben wird: Ausnahmsweise. Aber nur ein Film, dann ist Schluss!
Ich knie auf dem beigefarbenen Teppichboden in unserem Wohnzimmer vor dem Fernsehapparat.
Magische Bilderwelt. Alles ist so echt, so nah, so wahrhaftig.
Die Mattscheibe ist noch schwarz (einen schemenhaften Moment lang sehe ich darin mein Spiegelbild von damals, offene Augen, weite Pupillen, und hinter mir das dunkelgrüne Cordsofa und dahinter den Durchgang ins Esszimmer und darin den Hund), da ertönt ein durchdringender, unverkennbarer Drehleierton. Vier Mal der gleiche, dann setzen gut gelaunte Streicher ein und kurz darauf die hohe Singstimme der kleinen Eva Mattes.
Zwei mal drei macht vier, widdewiddewidd, und drei macht neune.
Ich kann noch nicht rechnen, gehe ja noch nicht zur Schule, erst nach dem Sommer, aber ich will, ja, ich widdewiddewill es dringend lernen!
Ein rotzopfiges Mädchen, das ohne Sattel auf einem ziemlich großen Pferd an einer Stadtmauer entlangreitet, kommt ins Bild. Close-up auf ihr Gesicht. Sie blinzelt neugierig in die Sonne, während dicht neben ihrer Wange der Kopf einer kleinen Meerkatze auftaucht. Klappklapp, klappklapp, machen die СКАЧАТЬ