Ein Jahrhundert Leben. Wolfgang Paterno
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Название: Ein Jahrhundert Leben

Автор: Wolfgang Paterno

Издательство: Bookwire

Жанр: Афоризмы и цитаты

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isbn: 9783903217225

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СКАЧАТЬ nach hinten als nach vorn. Ella sagte später, sie hätte am liebsten auf offener See sterben wollen, so miserabel wäre es ihr gegangen. Sechs lange Jahre erhielten wir keine Post von ihr. Sechs Jahre lang wussten wir nicht, ob sie noch am Leben ist. Meine Schwestern Anna und Emmi wohnten gemeinsam in Innsbruck. Auch Anna und Emmi – tot. Ich bin die Letzte.

      Früher war es nicht einfach mit fünf Kindern. Immer war wenig zum Essen da. Hunger zu leiden ist eine Qual, die nicht enden will. Nie werde ich vergessen, wie der Vater zur Mutter sagte, als sie ihn aufforderte, nochmals Suppe zu schöpfen: »Zuerst die Kinder!«

      Geboren wurde ich in Schaan, einer kleinen Gemeinde in Liechtenstein, weil unser Vater Grenzbeamter war. Wir zogen nach Lustenau, wo ich seit einer gefühlten Ewigkeit lebe. 75 Jahre wohne ich in derselben Straße. Ich wollte nie woanders sein, hier ist meine Welt. Unsere Kindheit war im Großen und Ganzen schön, unbekümmert. Einen Kindergarten kannten wir nicht. Von unseren vielen Tanten und Onkeln wurden wir miterzogen.

      An den 1914er-Krieg kann ich mich nicht erinnern. Im zweiten großen Krieg war ich drei Jahre lang Hausmädchen bei einem Arzt in Dornbirn. Der Doktor war ein Nazi und kinderlos. Ich musste seine Hunde mit einem Silberlöffel füttern. Einer war ein ganz besonders böses Tier. Er schnappte nach mir. Die Hunde wurden satt, die Menschen hungerten. Der Doktor las jeden Tag seine Zeitung, er ging gern wandern oder spielte Karten. Ein Hobby braucht der Mensch. Kurz vor Kriegsende trieb man ihn aus der Stadt, weil er, so nennt man das in Lustenau, »ein Hitler« war, ein Nationalsozialist.

      Noch während des Kriegs prüfte ich in einer Fabrik Gasmasken auf ihre Dichtheit. In einem Kartonagenwerk mussten wir nach 1945 kleine Geschenke für die französischen Soldaten basteln, Berge von Papierbeutelchen an Weihnachten. Ein Soldat schnitt uns die Haare. Wie Schafe sahen wir danach aus.

      Ich begann in einer Stickerei zu arbeiten. Ich wurde rasch zur Chefin vom Musterzimmer befördert und war verantwortlich für die Musterbücher, die wir an unsere Kunden verschickten. Darin waren durchnummerierte Stoffbeispiele eingeklebt, die wir mit unseren Stickmaschinen anfertigen konnten. Manchmal gab ich den Mustern Fantasienamen. Ich arbeitete in dieser Stickerei bis zu meiner Pension.

      Meine Schwester Ella besuchte ich öfters in Kalifornien. Ich habe gern fotografiert. Meine Erinnerungen sind auf Fotos gebannt. San Francisco gefiel mir. Jeden Tag Sonnenschein. Die Golden Gate Bridge. Die Welt in warmen Farben. Amerika war fantastisch, dort leben wollte ich nicht. Man kam als Fußgänger vor lauter Verkehr kaum über die Straßen, es waren selten Radfahrer unterwegs, alle bewegten sich im Auto fort. In den großen Städten wimmelte es von Menschen. Ella schickte mir aus Amerika oft die modernsten Dinge nach Lustenau. Einmal bekam ich von ihr falsche Wimpern. Ich klebte sie im Fasching verkehrt herum an und konnte die Augen nicht mehr richtig schließen. Alle lachten! Ella starb 2005. Ihr Mann David hatte schon viel früher einen Autounfall. Er war sofort tot. Mit 36 Jahren.

      Wie man 100 wird? Ich weiß es nicht. Manchmal denke ich: »100? Wie schrecklich!« Ich hätte nie gedacht, dass ich ein langes Leben haben werde. Zu meinem 100. Geburtstag im August 2014 bekam ich Post vom damaligen Bundespräsidenten Heinz Fischer und persönliche Widmungen von den Schlagerstars Florian Silbereisen und Helene Fischer. »Für Hilda zum 100. Geburtstag«, schrieb Helene Fischer in Handschrift auf die Karte. Meine liebe Anneliese, seit vielen Jahren meine Ersatzenkelin, hatte das für mich arrangiert.

      Ich bin die älteste noch lebende Lustenauerin. Jedes Jahr nehme ich an den Jahrgangsfeiern teil. Für jedes Geburtsjahr sind im Festsaal Sitzreihen reserviert. Ich bin allein auf weiter Flur.

      Ich war nie verheiratet, habe keine Kinder. Ich liebte die Kinder aus der Nachbarschaft. Bei mir genossen sie Narrenfreiheit. Ich bin ledig und wäre also noch zu haben! An Männern fehlte es mir ja nie! Wir trafen uns, vor den neugierigen Blicken der Dorfbewohner geschützt, im Rheinvorland in einem Park auf einer Holzbank, im Schatten der Bäume. Unsere Mutter war in dieser Beziehung streng. Ihr passte keiner meiner Männer.

      Ich liebte das Tanzen. Als junge Frauen wählten wir uns die Buben auf den Festen in der Turnhalle zum Tanzen aus. Wir stöckelten die steile Treppe zu einem Lokal in der Schweiz hoch. Oft plumpsten wir auf unsere Hintern.

      Auf meine Erscheinung legte ich immer Wert. Ungepflegt ging ich nie aus dem Haus. Einmal stürzte ich im Bad. Ich lag eine Nacht lang reglos auf dem Fliesenboden, unfähig, aufzustehen. Am nächsten Morgen wurde ich gefunden. Man rief die Rettung. Bevor die Sanitäter das Badezimmer betreten durften, musste ich mich im Sitzen frisieren und mir die Augenbrauen nachziehen.

      Natürlich fürchte ich mich davor, dass mein Leben tatsächlich zu Ende geht. Angst kriecht hoch, sie verfliegt aber rasch wieder. Es werden mir bis zum Sterben nicht mehr so viele Jahre wie bisher geschenkt, dessen bin ich mir sicher. Alles ist eine Frage der Zeit.

      Ich kam mit den Menschen gut zurecht. Offenheit, Toleranz und wechselseitiges Interesse ermöglichten mir ein erfülltes Leben. Was zählen schon Haar- und Hautfarbe? Weniger als nichts. Kein Streit und keine Schwierigkeit, die ich mit anderen auszufechten hatte, wollen mir einfallen! Jeder möge sein Leben nach seiner Façon leben. Ich lebte meins.

      Wichtig war, mir selbst und anderen gegenüber aufmerksam und anständig zu sein. Ich bestimmte darüber, wie und was mein Leben sein soll, ließ jeden in Ruhe, der auch mir meine Freiheit gönnte. Vielleicht fällt das Sterben so leichter. Vor dem Tod selbst habe ich keine Angst, allenfalls ein bisschen Lampenfieber.

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      Hannes Schiel

      *1914, Wien

      Der berühmte Ernst Waldbrunn gab mir in seinem Theater eine kleine Rolle in Der Hexer von Edgar Wallace. Ich hatte noch ein gutes Gedächtnis und konnte in 24 Stunden jede Rolle lernen.

      Als Kind schon wollte ich Schauspieler werden. Mein Vater war deshalb böse mit mir. Er war Berufsoffizier und meldete sich 1914 freiwillig an die Front. Er kam in russische Gefangenschaft, vier Jahre galt er als vermisst. Wegen seines Manikürtäschchens hatte er den Russen vormachen können, er sei Arzt. Deshalb kam er frei. Als Arzt war er bei den Russen ein großer Herr. Eines Tages stand er in der Tür, in Armeemantel, mit Pelzkappe und Bart. Eine meiner Cousinen empfing ihn weinend, weil ihr Mann in den letzten Kriegstagen eingerückt war und auf dem Schlachtfeld verloren ging.

      Mein Vater starb früh. Erst nach seinem Tod konnte ich mich ganz der Schauspielerei widmen. Er war mir gegenüber oft rüde, erst mein späterer Vormund akzeptierte mich als Mensch. Im Wiener Volkstheater machte ich meine Bühnenprüfung. Im Parkett saßen Otto Preminger und der Schauspieler Hans Thimig. Preminger wurde später Hollywood-Regisseur.

      Mein erstes Engagement hatte ich in Innsbruck. Ich erinnere mich, wie in Grillparzers Libussa ein echtes Pferd auf die Bühne kam. Ich ging durch den Bühnenwald mit dem Pferd am Zügel. Die Hufe klapperten wie wild. Später zogen wir dem Ross Filzpatschen an. Der Auftritt sorgte im Publikum für Gelächter. Bald wurde das Pferd aus der Besetzungsliste gestrichen.

      Weihnachten 1939, nach Kriegsbeginn, kam ich an die Front. Bis zu minus 42 Grad Celsius. Ein Vorgesetzter fragte, wer Maschinenschreiben könne. Ich zeigte auf, obwohl ich keinerlei Erfahrung hatte, und wurde Schreibhengst. Den ganzen Krieg über hielt ich mich an irgendeinem Schreibtisch fest. Ich war nie ein Held, ich mogelte mich durch. Ich bin strikter Antimilitarist, schon wegen meines Vaters.

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