Название: Ellenbogenfreiheit
Автор: Daniel C. Dennett
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
Серия: eva taschenbuch
isbn: 9783863935276
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„Wenn die Zeit des Eierlegens gekommen ist, gräbt die Wespe Sphex zu diesem Zweck ein Erdloch und sucht sich eine Grille aus, sticht sie, so daß die Grille gelähmt, aber nicht tot ist. Sie schleppt die Grille in das Erdloch, legt ihre Eier an ihr entlang, macht das Erdloch zu, dann fliegt sie weg und kehrt nie wieder. Zur fälligen Zeit schlüpfen die Wespenlarven aus den Eiern und fressen die gelähmte Grille auf, die nicht verfault ist, da sie in dem Wespen-äquivalenten Zustand des Tiefgefroren-Seins gehalten wurde. Für das menschliche Verständnis zeigt eine solche ausgetüftelt organisierte und offenkundig zweckmäßige Gewohnheit einen überzeugenden Anflug von Logik und Bedachtsamkeit – solange, bis weitere Details untersucht werden. Zum Beispiel hat die Wespe die Gewohnheit, die gelähmte Grille zu dem Erdloch zu bringen, sie am Rand liegen zu lassen, in das Loch hineinzukriechen, um zu sehen, ob alles in Ordnung ist, herauszukommen und die Grille dann einzugraben. Wird die Grille um ein paar Zentimeter verschoben, während die Wespe innen ihre vorläufige Inspizierung vornimmt, wird die Wespe, wenn sie aus dem Erdloch herauskommt, die Grille zuerst zurück zum Rand bringen, aber nicht in das Erdloch zerren, und sie wird dann die vorbereitende Prozedur wiederholen und in das Erdloch kriechen, um zu sehen, ob alles in Ordnung ist. Wenn die Grille wieder ein paar Zentimeter weggeschoben wird, während die Wespe drinnen ist, wird sie die Grille noch einmal zum Rand bringen und wieder in das Erdloch kriechen zur letzten Überprüfung. Die Wespe kommt nie auf die Idee, die Grille direkt hineinzuzerren. Bei einer Gelegenheit wurde diese Prozedur 40 mal wiederholt immer mit dem gleichen Ergebnis.“ (Wooldridge 1963, S. 82)4.
Die arme Wespe ist demaskiert, sie ist kein freier Handelnder, sondern angewiesen auf simple, physikalische Ursachen, die sie unausweichlich zu ihren Zuständen und Aktivitäten drängen durch Merkmale der Umgebung, die außerhalb ihrer Kontrolle liegen. In „Can Creativity be Mechanized?“ hat Hofstadter vorgeschlagen, daß wir diese niederschmetternde Eigenschaft, die von der Wespe so deutlich dargestellt wird, Sphexhaftigkeit nennen. Eine der mächtigsten Tendenzen in der Literatur über den freien Willen ist die Angst vor Sphexhaftigkeit.
Wir sind viel klüger als Sphex, Gott sei Dank, aber gerade wenn wir dankbar darüber nachdenken, fragt der Angstmacher wieder: „Was macht Sie so sicher, daß Sie nicht sphexhaft sind – wenigstens ein kleines bißchen?“ Würde es nicht einfach aus dem materialistischen Determinismus folgen, daß menschliche Wesen, als physikalische Organismen so ausgefallen wie auch immer, in genau dem gleichen Maß Einwirkungen der Umgebung, die auf sie niederregnen, ausgeliefert sind? Der gottgleiche Biologe beugt sich hinab und schafft eine kleine lokale Änderung in der Welt der Wespe und enthüllt dabei ihr bewußtloses, mechanisches Dasein; könnte eine höhere Intelligenz, die auf uns herunterschaut, nicht einen ähnlichen, wenn auch differenzierteren Trick finden, der uns demaskiert? Selbst wenn wir uns daran erinnern, daß es, soweit wir wissen, keine solche Super-Handelnden da oben gibt, die dazu bestimmt sind, unser Leben zu durchkreuzen, ist die bloße prinzipielle Möglichkeit, daß wir auf diese Weise unvollkommen und verwundbar sind, besonders erschütternd.
Beachten Sie die Parallele zwischen der Angst vor dem unsichtbaren Gefängniswärter und der Angst vor Sphexhaftigkeit. Man beginnt mit einem einfachen, klaren Fall von etwas Schrecklichem (wirklich im Gefängnis zu sein oder genauso wie eine Wespe zu sein) und läßt dann die Schrecklichkeit einsickern und räumt dann ein, daß im eigenen Fall die Sache viel komplexer ist – meist zu komplex, um sie sich vorstellen zu können – aber immer noch in wichtiger Hinsicht ähnlich. Dann erbt vermutlich unser eigener Fall die Schrecklichkeit dank der Kette von Ähnlichkeiten. Aber ist das wirklich so?
Hier möchte ich auf eine gefährliche Eigenart philosophischer Praxis hinweisen, die in diesem Buch eine besondere Untersuchung erfährt: die absichtliche Übervereinfachung von Aufgaben, die von dem Vorstellungsvermögen der Philosophen ausgeführt werden soll. Eine verbreitete Strategie in der Philosophie ist es, eine bestimmte Art von Gedankenexperimenten zu bilden, die ich eine Intuitionenpumpe nenne (Dennett 1980 und Hofstadter und Dennett 1981). Solche Gedankenexperimente (im Gegensatz zu denjenigen Galileis oder Einsteins zum Beispiel) sind nicht dazu gedacht, strenge Argumente, die Konklusionen aus Prämissen beweisen, zu illustrieren. Eher sollen eine Reihe von phantasiereichen Reflexionen im Leser hervorgerufen werden, die letztlich keine formale Konklusion erreichen, sondern ein Gebot der „Intuition“. Intuitionenpumpen sind schlauerweise so aufgebaut, daß sie die Aufmerksamkeit des Lesers auf „die wichtigen“ Merkmale konzentrieren und den Leser davon abhalten, in den schwer zu verfolgenden Details steckenzubleiben. Daran ist im Prinzip nichts falsch. Eine der höchsten Berufungen der Philosophie ist es in der Tat, Wege zu finden, um Menschen zu helfen, den Wald zu sehen und nicht bloß die Bäume. Aber Intuitionenpumpen werden oft mißbraucht, wenn auch selten absichtlich.
Der häufigste Mißbrauch ist vielleicht, daß man ein Ergebnis ableitet – ein tiefgefühltes intuitives Urteil – aus der besonderen Einfachheit des vorgestellten Falles und gerade nicht aus dem wirklichen Gehalt des Beispiels, das so einfach und klar dargelegt wurde. Könnte es nicht so sein, daß das Schicksal der Wespe nicht deswegen zu furchtbar ist, weil ihre Handlungen und „Entscheidungen“ verursacht werden, sondern weil sie so einfach verursacht werden? Wenn es so ist, dann kann der anerkannte Unterschied zwischen dem Gegenstand unserer Intuitionenpumpe und uns – unserer Komplexität – verhindern, daß wir die Schrecklichkeit, die wir in dem einfachen Fall sehen, erben. Vielleicht sollten wir lachen, nicht erschaudern; vielleicht ist diese Intuitionenpumpe genauso wie die Alptraumschlange, die ihren Schwanz verschlingt und das so lange macht, bis sie sich vollständig selbst aufgefressen hat.
Aber das wird nur eine detaillierte Untersuchung ergeben. Sind wir sphexhaft? Sind wir in wichtiger Hinsicht sphexhaft? Wir kennen sicher einige Menschen, die es sind: Hochgradig Geisteskranke, Zurückgebliebene, Hirngeschädigte. (Zum Beispiel beschreibt Whitaker (1976) eine hirngeschädigte Frau, die überhaupt keine Sprache mehr verstehen konnte, die aber alles genau nachäffte, was zu ihr gesagt wurde – bis auf die grammatikalischen Fehler, die sie immer korrigierte!) Viele erschütternde Experimente von Psychologen scheinen etwas über die Dimension unserer Sphexhaftigkeit zu enthüllen: Milgrims klassische Horrorgeschichte über die gehorsamen Folterer (Milgrim 1974), Experimente über menschliche Irrationalität von Kahneman, Tversky und vielen anderen (Kahneman, Slovic und Tversky 1982)5, und natürlich die berühmten, wenn auch nicht offiziell anerkannten Anekdoten über Studenten, die Skinners wirksame Konditionierungstechnik anwandten, um ihre Psychologieprofessoren dazu zu bringen, sich während der Vorlesung am Ohr zu kratzen (Brewer 1974). Das wahrscheinliche Ausmaß unserer Sphexhaftigkeit wird ein zentrales Thema des zweiten Kapitels sein.
Das verschwindende Selbst: Ein anderes Merkmal, das in der Geschichte von der Wespe im Hintergrund lauert, ist jenes schauerliche Gefühl, das man oft bekommt, wenn man Insekten und andere niedere Tiere beobachtet oder etwas über sie erfährt: Diese ganze geschäftige Aktivität, aber es ist niemand zu Hause! Wir betrachten eine Welt, die scheinbar klug konstruiert, dann aber von ihrem Konstrukteur verlassen worden ist. Die Ameisen und Bienen und sogar die Fische und Vögel sie „bewegen sich nur wie Räder im Getriebe“. Sie verstehen nicht oder schätzen nicht richtig ein, was sie eigentlich machen, und auch in ihrer Nachbarschaft ist kein verstehendes Selbst zu finden. Das ist die Angst vor dem unglaublichen verschwindenden Selbst.
Wiederum scheinen wir klare Fälle zu kennen, die zwischen Insekten, Fischen und uns selbst liegen. Geisteskranke und Hirngeschädigte zum Beispiel werden offenbar mitunter ganz zutreffend so beschrieben, daß sie kein Selbst haben, daß sie lebendig und beseelt sind, aber keine Seele besitzen. Wenn wir unsere mentalen Aktivitäten von „zu nahe“ betrachten, tritt oft dasselbe Phänomen des Verschwindens ein. Wie Mozart einmal von seinen musikalischen Einfällen sagte: „Woher und wie kommen sie? Ich weiß es nicht, und ich habe nichts damit zu tun.“6 СКАЧАТЬ