Название: Statist auf diplomatischer Bühne 1923-1945
Автор: Paul Schmidt
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
Серия: eva digital
isbn: 9783863935030
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Bei diesen Fragen Stresemanns wurde ich wieder durch meinen akustisch sehr ungünstigen Platz behindert. Ich konnte nicht genau verstehen, was er an einzelnen Stellen ausführte, aber ich hatte diesmal nicht den Vorteil wie am Vortage, die komplizierte Sachlage genau zu kennen. Es war damals noch nicht üblich, bei den großen politischen Delegationen die Dolmetscher zur sachlichen Vorbereitung an den internen Beratungen teilnehmen zu lassen. Sie wurden noch als eine Art Sprachautomat angesehen, in den man auf der einen Seite etwas hineinredete, das auf der anderen Seite mechanisch in der gewünschten Sprache wieder herauskam. Die Schwierigkeit des Verdolmetschens komplizierter juristisch-politischer Ausführungen war den politischen Delegationen noch nicht bewußt geworden. Deshalb geriet ich an diesem Morgen bei einigen Punkten, besonders bei den Fragen wegen des Durchmarschrechtes, erheblich ins „Schwimmen“.
Ich merkte sofort an der Unruhe bei Ghamberlain, daß etwas nicht in Ordnung war und sah, noch während ich sprach, wie er Luther einen Zettel herüberschickte, auf dem er sich, wie ich nach Schluß der Sitzung erfuhr über meine Übersetzung beschwert hatte. Als ich fertig war, griff er dann auch sofort ein und ergänzte meine Ausführungen mit den Worten: „Monsieur Stresemann a encore dit…“, und ergänzte auf französisch, was seiner Ansicht nach Stresemann außerdem noch gesagt hatte. Später erlebte ich, wie Chamberlain auch bei anderen Dolmetschern im Völkerbundsrat, oft mit den gleichen Worten, deren Übersetzungen korrigierte. Er war bei ihnen deshalb nicht gerade beliebt, weil seine Verbesserungen oft keine Verbesserungen waren und man sich des Eindruckes nicht erwehren konnte, daß er hauptsächlich demonstrieren wollte, wie scharf er aufpaßte, und wie gut er fremde Sprachen beherrschte. Besonders die französischen Dolmetscher in Genf hatten es bei ihm nicht leicht.
In meinem Falle aber hatte er mit seiner Korrektur durchaus recht gehabt, und ich war ihm innerlich dankbar, daß er die Sache so ruhig und kavaliersmäßig erledigt hatte. Nach der Sitzung bekam ich dann einige „schräge“ Bemerkungen von Gaus wegen meiner ungenügenden Übersetzung zu hören. Aber Luther und Stresemann sagten kein Wort. Es wurde nur beschlossen, daß ich in Zukunft auch zu den internen Besprechungen herangezogen werden sollte. Durchgeführt wurde aber dieser Beschluß trotzdem nicht. Ich war eben zu jung und unbedarft und hätte wohl auch insofern durch meine Anwesenheit gestört, als sich, wie ich hörte, in diesen internen Besprechungen manchmal Meinungsverschiedenheiten zwischen Luther und Stresemann über die zu befolgende Taktik ergaben, die die beiden Hauptdelegierten lieber unter sich regelten. Auch meine Anregung, mir einen akustisch günstigeren Platz, wie in London, am Konferenztisch selbst neben den Delegierten zu geben, blieb unberücksichtigt, weil dann Gaus oder Kempner ihre Plätze hätten aufgeben müssen, und dazu waren sie natürlich aus Prestigegründen nicht bereit. So blieb es denn während der Hauptsitzungen im Rathaussaal bei den alten Schwierigkeiten, aber ich hatte mich allmählich doch so an die unangenehmen Verhältnisse gewöhnt, daß ich bis zum Ende der Konferenz ohne allzu große Pannen und ohne weitere Ausstellungen von seiten Chamberlains durchkam. Sehr wohl fühlte ich mich natürlich in meiner Lage nicht. Die englische Delegation hatte das Richtige getroffen, als sie verständnisvoll meine Lage mit der eines Mannes verglich, der auf sehr dünnem Eis Schlittschuh läuft. „Skating on thin ice“, sollte auch in der Folge in Genf noch des öfteren eine meiner Sportleistungen sein.
Ein Trost lag für mich darin, daß Professor Hesnard, der vertraute Mitarbeiter Briands, der in Locarno dessen Ausführungen oft ins Deutsche übersetzte und auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes an genau so einem kleinen Tischchen hockte wie ich, ähnliche Schwierigkeiten hatte, und, obwohl er als engster politischer Mitarbeiter des französischen Außenministers sachlich ganz anders im Bilde war als ich, manchmal auch erheblich „schwamm“. Aber Chamberlain ließ ihn in Ruhe, denn er verstand zwar Deutsch, konnte sich jedoch keineswegs mit der gleichen Leichtigkeit in dieser Sprache ausdrücken wie auf französisch und schon aus diesem Grunde nicht korrigierend eingreifen.
In jener Nachmittagssitzung ging inzwischen die Diskussion über die Ostfragen weiter, ohne daß es zu irgendwelchen Zusammenstößen kam. Eine Einigung wurde allerdings auch nicht erzielt, und schließlich endete alles mit einer Überweisung an die unglücklichen Juristen.
In den nächsten Tagen stand die Frage des Eintritts Deutschlands in den Völkerbund und die Kriegsschuldfrage im Vordergrund der Erörterungen und führte zu heftigen Rededuellen zwischen Stresemann und Briand, in die Chamberlain immer wieder vermittelnd eingriff.
In der Frage des von den Alliierten gewünschten Eintritts Deutschlands in den Völkerbund hatte man sich deutscherseits von vornherein dagegen gewandt, daß das Reich trotz seiner Abrüstung die gleichen Verpflichtungen auf wirtschaftlichem und militärischem Gebiet wie die anderen hoch gerüsteten Mitglieder übernehmen sollte, wenn der Völkerbund im Falle eines Angriffs auf eines der Mitglieder Sanktionen beschlösse. Deutschland hatte verlangt, daß es angesichts der ihm durch den Versailler Vertrag auferlegten militärischen Schwäche von diesen Verpflichtungen ausgenommen und ihm eine Sonderstellung, ähnlich der der neutralen Schweiz, eingeräumt würde. Dies hätte natürlich auch jedes Durchmarschrecht der Völkerbundstaaten durch Deutschland zum Zwecke der Hilfeleistung an ein angegriffenes Mitglied ausgeschlossen. Der praktische Fall, der damals in Erinnerung an den russisch-polnischen Krieg allen bei diesen Erörterungen vorschwebte, war ein neuer polnisch-russischer Konflikt. Angesichts des ohnehin schon bestehenden Argwohnes Rußlands gegen eine Westorientierung Deutschlands wollte das Reich hier keineswegs Verpflichtungen übernehmen, die es in einen Konflikt mit der Sowjetunion hätten bringen können.
Aus dieser Sachlage heraus entwickelte sich schon in den nächsten Tagen ein außerordentlich lebhafter Meinungsstreit zwischen Briand und Stresemann. „Deutschland beansprucht, als Großmacht in den Völkerbund aufgenommen zu werden, und kann daher unmöglich alle Rechte für sich in Anspruch nehmen, ohne auch gleichzeitig sämtliche Pflichten zu übernehmen“, hatte Briand mit Nachdruck erklärt. Um die deutschen Befürchtungen zu beschwichtigen, hatte er damals interessanterweise das Reich auf den Gebrauch des Veto-Rechtes hingewiesen, durch welches es jederzeit einen einstimmigen Beschluß des Völkerbundsrates in Sanktionsangelegenheiten gegen einen Angreiferstaat verhindern könnte. Er hatte also mit anderen Worten Deutschland geraten, im Völkerbund das gleiche zu tun, was Sowjetrußland heutzutage über zwanzigmal im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, der dem damaligen Völkerbundsrat entspricht, getan hat: durch den Gebrauch des Vetos unbequeme Beschlüsse einfach zu verhindern.
Aber Stresemann verhielt sich in Locarno dieser Anregung gegenüber anders als Molotow und Wyschinski in jüngster Zeit in den Vereinten Nationen. „Ein solches Verfahren lehne ich ab“, rief Stresemann temperamentvoll in den Saal. „Wenn wir im Falle eines russischen Angriffs die Sowjetunion als Angreifer bezeichnen, so stehen wir mit dem ganzen Schwergewicht unseres moralischen Ansehens auf Seiten des Völkerbundes, trotzdem diese Haltung für Deutschland schwerste politische Folgen haben kann.“ Wenn Briand von einer gewollten Nicht-gleichberechtigung Deutschlands gesprochen habe, so weise er das mit aller Entschiedenheit zurück. Die Ungleichheit zwischen dem Militarismus der Alliierten und der Machtlosigkeit des Reiches sei von Deutschland sicherlich nicht gewollt. Er müsse in aller Offenheit den Alliierten sagen, daß sie das Prinzip der Abrüstung gegen Deutschland übertrieben hätten. „Welch ein Widerspruch, wenn man auf der einen Seite die deutsche Reichswehr zu einer reinen Grenzpolizei machen will, andererseits aber die militärische Mitwirkung dieser Grenzpolizei an einem Kriege verlangt.“
Nach den Darlegungen Stresemanns, die fast dreiviertel Stunden in Anspruch nahmen und von mir in längeren Abschnitten übersetzt wurden, trat eine Stille ein wie nach einem heftigen Sturm. Der Reichsaußenminister hatte aus seinem Herzen keine Mördergrube gemacht. Er war in eine ziemliche Erregung geraten, und seine Lautstärke hatte sich zu meiner Freude so erhöht, daß ich mühelos folgen konnte, da auch sonst im ganzen Raum atemlose Stille herrschte, niemand umherlief oder mit Papieren raschelte, und alle, auch diejenigen, die nicht Deutsch verstanden, wie gebannt СКАЧАТЬ