Pilgerwahnsinn. Jörg Steinert
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Название: Pilgerwahnsinn

Автор: Jörg Steinert

Издательство: Bookwire

Жанр: Религия: прочее

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isbn: 9783843612890

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СКАЧАТЬ am nächsten Tag, als ich aufwachte. Es war dunkel und ruhig, ich konnte die Lichter in Frankreich sehen. Als Erstes musste ich feststellen, dass mein Gepäck nicht in meinen Rucksack passte, wenn ich auch Wasser und Essen mit mir führen wollte. Ich begann daher, einige mitgebrachte Kleidungsstücke zu entsorgen, auch wenn es mir widerstrebte. Ich konnte das unmöglich alles mit mir schleppen. Als ich die Tür der Ferienwohnung gegen 6 Uhr leise hinter mir schloss, wusste ich, dass es kein Zurück geben würde. Schließlich hatte ich keinen Schlüssel.

      Das morgendliche Hondarribia glich einem Gemälde. Die Straßenlaternen dieses historischen Ortes leuchteten. Das nasse Kopfsteinpflaster reflektierte das warme Licht. Es war nur ein kurzer Stadtspaziergang. Am Rande des Ortes suchte ich mit Mühe die ersten gelben Pfeile, die den Weg nach Santiago weisen, und lief den Berg nach oben. Etwa zwei Stunden, bei Dunkelheit, Regen und ganz viel Matsch. Zum Glück hatte ich eine Stirnlampe dabei.

      Es war ein beschwerlicher Weg. Und an der ersten Wegkreuzung, es wurde inzwischen heller, fragte ich mich, wohin ich laufen sollte. Den normalen Weg oder die schwere Variante, die bei schlechtem Wetter nicht empfohlen wird. Trotz starkem Regen entschied ich mich für die steile Variante. Ich kam mir vor wie ein großer Abenteurer. Und ein bisschen plagte mich auch ein schlechtes Gewissen, da ich der Pilgergruppe nicht mal eine Nachricht hinterlassen hatte. Was würden sie denken? Ich wollte natürlich auch nicht, dass sich irgendjemand Sorgen macht. Aber egal, der Weg war einfach zu mühsam, ich konnte mir darüber jetzt keine Gedanken machen.

      Auf der Spitze des Berges kam ich gegen 8 Uhr morgens an. Durchgeschwitzt. Nass vom Regen. Schmutzig vom Schlamm. Aber auch ein fantastischer Ausblick auf Hondarribia, die baskische Perle in Spanien, sowie auf die französische Küste und den Atlantik. Ich griff zu meinem Mobiltelefon und rief meine Eltern an. Ich wollte mich mitteilen. Doch die Geschichte vom Bonding und der Flucht hätten einen zu besorgniserregenden Eindruck hinterlassen. Im Ergebnis brachte ich daher nur die Aussage heraus: „So schön habe ich es mir nicht vorgestellt. Es ist wunderschön.“

      Sven, das war der Mann mit Bibel und Gebetbüchern, war inzwischen auch unterwegs. Er fragte mich per SMS ziemlich direkt, ob ich geflohen sei. Was ich nur bestätigen konnte. Auch er hatte die Schnauze voll und plante kein Wiedersehen mit der Gruppe in der nächsten Pilgerherberge.

      Sowohl Sven als auch ich beschlossen, aus zwei Tagesetappen eine zu machen. Hauptsache Abstand zwischen uns und die Bonding-Gruppe bringen. Wir trafen uns am Abend in der Jugendherberge im schicken San Sebastián wieder. Und da gerade Ostern war, hatten wir großes Glück, die letzten Betten zu ergattern.

      Sven und ich hatten nicht viel gemein. Er war Mitte 40, heterosexuell, sehr gläubig, ein gestandener sportlicher Typ und ein ziemlicher Macho. Aber die gemeinsame Flucht einte uns.

      Anfängerglück

      Eine wichtige Lektion hatte ich bereits gelernt. Du kannst Pech haben im Leben. Aber entscheidend ist, wie du damit umgehst. Natürlich ärgerte es mich, dass wir abgezockt worden waren. Aber während Sven darüber nachdachte, wie er sich das für die Gruppenreise gezahlte Geld zurückholen könnte, war ich vor allem froh darüber, dass ich mir keine weitere Lebenszeit rauben ließ.

      Am nächsten Morgen liefen Sven und ich gemeinsam weiter. Auf dem Weg begegneten wir auch den ersten anderen Pilgerinnen und Pilgern, darunter Matis – ein Aussteiger aus München, der seinen Job und seine Wohnung gekündigt hatte. Der charmante Matis verdrehte Frauen wie Männern, auf ganz unterschiedliche Art und Weise, den Kopf. Als er jedoch von den Stimmen in seinem Kopf erzählte, ging ich sofort auf Distanz. „Nicht noch mehr wirres Zeug“, dachte ich mir. Sven störte sich weniger daran. Wer felsenfest an Gott glaubt, zweifelt vielleicht auch nicht an Stimmen im Kopf – so meine damalige These. Ich wollte damit aber nichts zu tun haben.

      Inzwischen hatten sich Sven und ich auch ordnungsgemäß von unserer Reisegruppe abgemeldet. Da wir am Tag zuvor eine beachtliche Strecke zurückgelegt hatten, wollte Sven nur bis ins 14 Kilometer entfernte Orio laufen. Matis wollte auf jeden Fall weiter. Ich war noch unentschlossen. Aber auch ich machte wie Sven bei „Mama Camino“, so nennt man die Herbergsmutter Rosa, Halt. Die Herberge war eine frühere Garage, liebevoll hergerichtet. Wir wuschen unsere Wäsche mit der Hand, wrangen sie gemeinsam aus, beobachteten sie beim Trocknen im Wind und genossen die Frühlingssonne.

      José, ein spanischer Pilger, wollte immer wieder mit uns ins Gespräch kommen. Da er aber kein ­Englisch sprach und wir kein Spanisch, war dies kaum möglich. Wir verstanden uns trotzdem gut. José ­faszinierte an mir, dass ich nach nur zwei Pilger­tagen schon so viel Wäsche auf der Leine hatte – und überhaupt so viele Wechselkleidung mit mir führte.

      Später am Nachmittag trafen Renate, Maria und Christine ein, drei deutsche Frauen. Sven musste jedem unsere Geschichte vom Bonding erzählen. Mir war das etwas peinlich. Zugleich war die Geschichte ein perfekter Eisbrecher. Es war mein erster richtiger Pilgertag. Laufen in Gesellschaft, eine gemütliche Pilgerherberge, gemeinsames Abendessen und pünktlich um 22 Uhr wurde das Licht im Schlafsaal ausgemacht.

      Gruppenschlafsäle waren mir bis dahin immer ein Graus. Doch während wir dalagen, fühlte ich mich geborgen. Renate, eine evangelische Theologin mit tiefer Stimme, sagte auf einmal laut in den Saal hinein: „Jörg, was macht denn jetzt eure Bondage-Gruppe?!“ Die Verwechslung zwischen Bondage und Bonding war gewollt. Alle mussten lachen. Wenige Minuten später ertönten die ersten Schnarchgeräusche.

      Vorsorglich verabschiedeten sich Renate, Christine, Maria, Sven und ich am nächsten Morgen voneinander. Und auch wenn mir die anderen Pilger sympathisch waren, ich wollte mich an keine neue Gruppe binden und frei sein. Und es war wirklich herrlich, links die Berge, rechts das Meer und vor mir der hügelige Weg.

      Allein zu pilgern bedeutete aber auch, auf sich und seine Gedanken zurückgeworfen zu sein. Und als ich zwischen zwei Orten entlang der viel befahrenen Küstenstraße lief, fand ich es nicht mehr so schön – ich fühlte mich fast ein bisschen einsam. Denn da war niemand, mit dem ich über diesen doofen Wegabschnitt lästern konnte. Und ich fragte mich auf einmal, was ich hier auf dem Jakobsweg überhaupt wollte. Ich wurde immer langsamer, unmotiviert schlurfte ich vor mich hin. Und genau in diesem Moment drehte sich ein vorbeieilender älterer Spanier um und wünschte mir einen „Buen Camino“, also einen guten Weg, den man Pilgern für ihre lange Reise wünscht. Ich hatte diesen Gruß schon zuvor gehört. Aber dieses „Buen Camino“ traf mich mitten ins Herz. Der Herr lächelte freundlich dabei und schon war er entschwunden. Ich musste mit den Tränen kämpfen. Wie konnte es sein, dass mir dieser Unbekannte ungefragt genau das gab, was ich brauchte: Aufmerksamkeit.

      Am nächsten Ort war ich so froh, auf Sven zu stoßen, der ein Cerveza, ein spanisches Bier, genoss. Auch er freute sich sehr, mich zu sehen. Wir zogen zusammen weiter.

      In den kommenden Tagen genoss ich es, einen Teil meiner Tagesetappe mit den anderen Pilgern zu verbringen und abends in derselben Herberge abzusteigen. Es war schön, sich über die Tageserlebnisse und was uns im Alltag bewegte auszutauschen. Wir genossen das gewachsene Miteinander. Es floss viel Rotwein. Und trotzdem waren wir am nächsten Tag wieder fit wie ein Turnschuh.

      Ich konnte es morgens kaum erwarten, dass das erste Handy ertönte. Ich war meist schon eine Stunde früher wach, in freudiger Erwartung auf die nächste Tagesetappe. Eine Tour schöner als die andere. Und dank der gelben Pfeile war es so gut wie unmöglich, den Weg zu verlieren.

      Ich war der Einzige, der im Alltag keinen Sport trieb. Maria und Sven berichteten von ihren Marathonerfahrungen. Darüber konnte ich nur staunen. Trotzdem lief alles so gut. Keine Blasen an den Füßen. Und auch keine anderen körperlichen Beschwerden. Was für ein Anfängerglück.

      Ungewohnt war es jedoch schon, kein eigenes Zimmer zu СКАЧАТЬ