Название: Philosophisches Taschenwörterbuch
Автор: Voltaire
Издательство: Bookwire
Жанр: Философия
isbn: 9783159617657
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Betrachte dieses Weizenkorn, das ich auf den Boden werfe, und sage mir, wie es sich aufrichtet und einen Halm erzeugt, der mit einer Ähre besetzt ist. Lehre mich, wie die gleiche Erde einen Apfel oben in diesem Baum hier hervorbringt und eine Kastanie an dem Nachbarbaum. Ich könnte dir einen Folianten mit Fragen füllen, die du wahrscheinlich nur mit vier Wörtern beantworten würdest: Darüber weiß ich nichts.
Und dennoch hast du deine akademischen Würden erhalten, du bist damit überhäuft worden, und einen Doktorhut hast du auch, und man nennt dich einen Lehrer. Und dieser andere hochnäsige Dummkopf, der sich ein Amt gekauft hat, glaubt, dass er damit auch das Recht gekauft habe, darüber zu urteilen und zu missbilligen, was er nicht versteht.
Montaignes Devise war Was weiß ich?,* und deine ist Was weiß ich nicht?
CARACTÈRE – Charakter
Das Wort kommt aus dem Griechischen, es bedeutet »Eindruck«, »Prägung«. Der Charakter ist unsere Prägung durch die Natur, ob wir sie auslöschen können, das ist die große Frage. Wenn ich eine schiefe Nase und zwei Katzenaugen habe, kann ich sie mit einer Maske verbergen. Kann ich stärker auf den Charakter einwirken, den mir die Natur gegeben hat? So wird ein Mann, der von Geburt an ungestüm und leicht aufbrausend war, bei Franz I., dem König Frankreichs, vorstellig, weil er sich über eine ungerechtfertigte Bevorzugung beschweren will. Das Gesicht des Königs, die respektvolle Haltung der Höflinge, der Ort selbst, an dem er sich befindet, machen einen starken Eindruck auf diesen Mann. Er senkt unwillkürlich den Blick, seine raue Stimme wird sanfter, er bringt sein Anliegen demütig vor, man könnte ihn für von Geburt an genauso sanft halten wie es (zumindest in diesem Augenblick) die Höflinge sind, in deren Mitte er sogar verunsichert ist. Doch wenn Franz I. sich mit Physiognomien auskennt, entdeckt er leicht in seinen Augen, die gesenkt sind, in denen aber ein finsteres Feuer glimmt, an den angespannten Muskeln seines Gesichts, an den aufeinander gepressten Lippen, dass dieser Mann nicht so sanft ist, wie er sich gezwungenermaßen geben muss. Dieser Mann folgt ihm nach Pavia, wird mit ihm zusammen festgenommen und kommt mit ihm in Madrid ins Gefängnis.* Die Majestät von Franz I. macht auf ihn nicht mehr den gleichen Eindruck, er wird mit dem Gegenstand seiner Verehrung vertraut. Eines Tages, als er dem König die Stiefel auszieht und sich dabei ungeschickt anstellt, wird der König, verärgert über sein Missgeschick, wütend, unser Mann schickt ihn zum Teufel und wirft seine Stiefel aus dem Fenster.
Sixtus V. war von Geburt an aufbrausend, eigensinnig, hochmütig, heftig, rachsüchtig und anmaßend. Diese Charakterzüge scheinen sich bei den Prüfungen während seines Noviziats abgemildert zu haben. Kaum beginnt er jedoch in seinem Orden etwas an Ansehen zu gewinnen, regt er sich über einen Klostervorsteher auf und streckt ihn mit Faustschlägen nieder. Als Inquisitor in Venedig versieht er sein Amt voller Anmaßung. Er wird Kardinal und ist besessen della rabbia papale*: Diese leidenschaftliche Hingabe lässt ihn sein Naturell bezwingen. Er umgibt seine Person und seinen Charakter mit einem undurchdringlichen Schleier, er gibt sich demütig und dem Tode nahe. Man wählt ihn zum Papst. Dieser Augenblick gibt seiner Tatkraft, die er aus politischen Gründen den Umständen angepasst hatte, allen lange Zeit zurückgehaltenen Schwung wieder. Er ist der stolzeste und despotischste aller Herrscher.
Naturam expellas furca tamen ipsa redibit.*
Religion und Moral können die Gewalt des Naturells in Grenzen halten, aber sie können es nicht zerstören. Der Säufer, der sich im Kloster mit einem Viertelliter Apfelwein pro Mahlzeit begnügen muss, wird sich nicht mehr betrinken, den Wein aber wird er immer lieben.
Das Alter schwächt den Charakter ab, es ist wie mit einem Baum, der nur noch einige degenerierte Früchte trägt, aber sie sind immer noch von der gleichen Art. Sein Stamm wird knotig und ist moosbedeckt, sein Holz wird wurmstichig, aber er ist immer noch Eiche oder Birnbaum. Wenn man seinen Charakter ändern könnte, dann gäbe man sich selbst einen und wäre damit Herr über die Natur. Kann man sich aber selbst etwas geben? Erhalten wir nicht alles? Versucht doch einmal, den Phlegmatiker zu einer kontinuierlichen Aktivität zu veranlassen, die kochende Seele des Heißsporns durch Apathie zu Eis erstarren zu lassen, demjenigen, der keinen Geschmack und kein Gehör hat, Sinn für Musik und Poesie beizubringen. Ihr werdet dabei nicht mehr erreichen, als wenn ihr versuchtet, einem blind Geborenen das Augenlicht zu geben. Wir vervollkommnen, wir mildern, wir verstecken, was die Natur in uns angelegt hat, aber wir sind es nicht, die diese Veranlagungen schaffen.
Man sagt zu einem Landwirt: »Sie haben zu viele Fische in Ihrem Fischteich, so werden sie nicht gedeihen. Es gibt zu viele Tiere auf Ihren Weiden, es fehlt an Gras, sie werden abmagern.« Nach dieser Ermahnung kann es vorkommen, dass die Hechte die Hälfte der Karpfen auffressen und die Wölfe die Hälfte der Schafe, der Rest wird dann fett. Wird sich der Bauer zu seinem wirtschaftlichen Erfolg beglückwünschen? Dieser Landwirt bist jedoch du selber. Eine deiner Leidenschaften hat die anderen aufgezehrt, und du glaubst, über dich triumphiert zu haben. Ähneln wir nicht alle jenem alten General von neunzig Jahren, der, als er einige junge Offiziere traf, die mit leichten Mädchen ein bisschen liederlich lebten, wütend zu ihnen sagte; »Meine Herren, ist das etwa das Beispiel, das ich Ihnen gebe?«
CERTAIN, CERTITUDE – Gewiss, Gewissheit
»Wie alt ist Ihr Freund Christoph?« »Achtundzwanzig Jahre. Ich habe seinen Ehevertrag und seinen Taufschein gesehen, ich kenne ihn seit seiner Kindheit; er ist achtundzwanzig Jahre alt, ich habe die Gewissheit, ich bin mir gewiss.«
Kaum habe ich die Antwort dieses Mannes vernommen, der sich dessen, was er sagt, so sicher ist, und von zwanzig anderen, die dasselbe bestätigen, da erfahre ich, dass man aus geheimen Gründen mit einem einzigartigen Trick Christophs Taufschein vordatiert hat. Diejenigen, mit denen ich gesprochen hatte, wissen davon noch nichts; sie haben immer noch die Gewissheit von etwas, das nicht so ist.
Hätte man vor der Zeit von Kopernikus die Leute auf der ganzen Welt gefragt: »Ist die Sonne heute aufgegangen, ist sie untergegangen?«, so hätten alle Leute geantwortet: »Wir sind uns dessen ganz sicher«; sie waren sich sicher und sie befanden sich dennoch im Irrtum.
Die Zauberei, das Wahrsagen, Wahngebilde sind in den Augen aller Völker lange Zeit die sicherste Sache auf der Welt gewesen; welche unabsehbar große Menge von Menschen hat alle diese schönen Dinge gesehen und war sich deren sicher! Heute hat diese Gewissheit ein wenig nachgelassen.
Ein junger Mann, der mit dem Studium der Geometrie beginnt, sucht mich auf. Er ist erst bis zu der Definition von Dreiecken gekommen. »Sind Sie sich nicht sicher«, so frage ich ihn, »dass die drei Winkel eines Dreiecks so groß wie zwei rechte Winkel sind?« Er erwidert mir, er sei sich dessen nicht nur keineswegs sicher, sondern er habe sogar noch nicht einmal eine klare Vorstellung von diesem Lehrsatz. Ich beweise ihn ihm, so wird er sich seiner ganz sicher und wird es sein Leben lang bleiben.
Hier gibt es eine von den anderen sehr unterschiedliche Gewissheit; diese waren nur Wahrscheinlichkeiten und entpuppten sich bei näherer Untersuchung als Irrtümer, doch die mathematische Gewissheit ist unwandelbar und ewig.
Ich existiere, ich denke, ich empfinde Schmerz, ist all dies ebenso sicher wie eine geometrische Wahrheit? Ja. Weshalb? Deshalb, weil diese Wahrheiten nach dem gleichen Prinzip bewiesen sind, dass eine Sache nämlich nicht gleichzeitig sein und nicht sein kann.* Ich kann nicht gleichzeitig existieren und nicht existieren, empfinden und nicht empfinden. Ein Dreieck kann nicht gleichzeitig eine Winkelsumme von hundertachtzig Grad haben, was zwei rechten Winkeln entspricht, und sie nicht haben.
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