Schuld ist nur das Publikum. Georg Markus
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Название: Schuld ist nur das Publikum

Автор: Georg Markus

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

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isbn: 9783902998484

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СКАЧАТЬ Schwüle in sich trug. Und da kam sie auch schon. Zierlich, auf einen Stock gestützt – aber nicht etwa, weil ihr das Alter dieses Attribut abverlangt hätte, sondern weil es zur Elegance ihrer Generation gehörte, einen zarten, schwarzen Elfenbeinstock in der Hand zu halten. Sehr schick wirkte sie in ihrem mondänen, weißen Seidenkostüm, das wunderschöne weiße Haar nach hinten gesteckt.

      Sie begrüßte mich höflich und distinguiert, wie sie eben war. Und dann stellte mir die alte Dame eine Frage, die ich, solange ich lebe, nicht vergessen werde. Sie, die im einhundertunddritten Lebensjahr stehende Frau Professor und Hofschauspielerin, fragte mich, den damals in den mittleren Zwanzigern befindlichen Reporter, ob ich »das Gespräch hier in der Halle führen möchte oder lieber draußen auf der Terrasse, aber dort wird es Ihnen vielleicht zu heiß sein«.

      Nicht ihr, der über Hundertjährigen, könnte es zu heiß sein, nein, mir, dem um ein Dreivierteljahrhundert jüngeren. Ich habe einen Beweis solcher Courtoisie in meinem Leben nie wieder erlebt.

      Wir entschieden uns der besseren Fotografiermöglichkeiten wegen für draußen, und ich darf gleich vorwegnehmen, daß sowohl die alte Dame als auch ich die Hitze, gemildert durch einen schattenspendenden Sonnenschirm, glänzend überstanden.

      Soweit die Vorgeschichte, wie es zu unserem Gespräch kam. Und nun zu diesem selbst.

      »Es war kein sehr bewegtes Leben«, begann sie ihre Erzählung mit zarter Stimme, »nein, ganz im Gegenteil – es gab keine Ausschweifungen, alles verlief sehr bürgerlich.«

      Und darin sah sie auch schon das Geheimnis dafür, ihr sagenhaftes Alter erreicht zu haben. »Ich habe nie viel gegessen und getrunken, bin viel an der frischen Luft, gehe gerne spazieren. Und vor allem: Ich glaube, ein gutes Naturell zu haben. Dinge, die mich belasten, kann ich ziemlich leicht abschütteln. Ich sage mir, es hat keinen Sinn, sich allzusehr aufzuregen.«

      Mit einer besonderen Langlebigkeit ihrer Vorfahren konnte sie nicht aufwarten, »meine Verwandten wurden alle nicht sehr alt. Die älteste war meine Großmutter, sie starb mit achtundsiebzig.« Auch Rosa Albach-Rettys Eltern waren Schauspieler, und kein Geringerer als Josef Kainz hatte zu ihrem Vater, als sie sechzehn war, gesagt: »Die Roserl, die muß zum Theater, das geht gar nicht anders.« Mit Kainz, »meinem Lieblingspartner«, sollte sie dann noch oft auf der Bühne stehen, unter anderem als Rahel in der Jüdin von Toledo. In einem halben Jahrhundert Burgtheater war sie dann auch die Nerissa im Kaufmann von Venedig, die Roxane in Cyrano von Bergerac, die Maria in Was ihr wollt, die Delfine im Konzert, die Beatrice in Viel Lärm um nichts, die Aase in Peer Gynt. Und die Göre Adelheid im Biberpelz – eine Rolle, für die sie Gerhart Hauptmann einst in Berlin persönlich vorgeschlagen hatte . . .

      »Für uns Junge war das Burgtheater etwas sehr Komisches«, schmunzelte sie. »Wir in Deutschland hatten ja längst nicht mehr so deklamiert, wir waren moderner. Am Burgtheater hat man immer noch mit furchtbarem Pathos gesprochen.«

      Dennoch war sie dem Ruf der führenden Bühne des deutschen Sprachraums gefolgt, an der ihr – trotz der anfänglichen Ressentiments – gleich auffiel, »daß alle so ein wunderschönes Deutsch sprachen«. Neben Kainz hatte sie auch noch die Burg-Titanen Adolf von Sonnenthal, Josef Lewinsky, Katharina Schratt und Lotte Medelsky erlebt, »alles wunderbare, große Sprechkünstler. Und genau das vermisse ich heute bei so vielen Kollegen, ich würde mir wünschen, daß sie alle sprechen lernen«, formulierte sie zielsicher und unmißverständlich ihren Seitenhieb an die Adresse der jüngeren Generationen.

      Sie war auch nicht zimperlich, als ich das Gespräch auf ihre (damals 39jährige) Enkelin Romy Schneider brachte. Und wieder kam ein Satz, der mir immer im Gedächtnis haftenbleiben wird, weil er so schön den Zeitensprung dokumentiert, der zwischen ihrer und der Generation ihrer Enkelin lag: »Die Romy? Ja, wissen Sie, sie ist leider keine Schauspielerin geworden . . .« Kleine Pause, in der ich sie etwas verwundert ansah, ». . . leider keine Schauspielerin geworden. Nur Filmschauspielerin.«

      Da kannte die Großmama kein Pardon, auch wenn die Enkelin längst zu den Großen dieser Welt zählte, für sie war sie »nur Filmschauspielerin«. Was sie als schade empfand, »denn ich halte sie für ungeheuer begabt. Je mehr sie sich auszieht, desto mehr Reiz hat das fürs Publikum, aber mit Kunst hat das nichts zu tun. Ich meine, daß die Arbeit für Film und Fernsehen mit der am Theater nicht zu vergleichen ist. Im Theater herrscht die Kunst, beim Film die Technik, da fällt das Gefühl unter den Tisch.«

      Es war natürlich die Meinung einer Frau, die aus einer anderen Zeit in die unsere gekommen war, und dennoch machte sie auf mich in keinem Moment den Eindruck, in ihren Ansichten altmodisch oder gar verstaubt zu sein. Sie wirkte mit ihrem ungeheuren Charme, und wenn sie mich mit ihren listigen Augen ansah – ich wage es kaum zu sagen –: da wirkte die Einhundertundzweijährige geradezu jung.

      Auch sie war in ihrem langen Leben nicht so gesund, wie man dies bei jemandem vermuten würde, der dieses biblische Alter erreichte. »Ich habe sechzig Jahre lang unter einem Magengeschwür gelitten, bis es im vergangenen Frühling zum Durchbruch kam.«

      Zumal meine Gesprächspartnerin nicht nur ein kulturhistorisches, sondern zweifellos auch ein medizinisches Phänomen darstellte, wandte ich mich nach unserem Gespräch (und mit Rosa Albach-Rettys Einverständnis) an den sie behandelnden Arzt, Primarius Erich Amann aus Baden, der mir erklärte: »Als ich ihr im vorigen April eröffnete, daß ihr Magengeschwür sofort operiert werden müsse, lehnte sie zunächst ab. Erst, als ich ganz offen sagte, daß dann sehr bald ihre letzte Stunde schlagen würde, willigte sie ein. Es konnte dann gar nicht schnell genug gehen. Der ungeheure Lebenswille ist es auch, der diese Frau in Würde und in bester Verfassung so alt werden ließ.« Dabei unterstrich der Primarius, »daß eine so schwere Magenoperation auch bei halb so alten Menschen nicht ungefährlich« sei. »Aber sie hatte eine blanke Wundheilung wie eine Vierzigjährige.« Und ein knappes halbes Jahr später, als ich ihr gegenübersaß, war sie nach Aussage des Arztes »vollkommen wiederhergestellt«.

      Zurück auf die Terrasse des Kurhotels Bad Goisern. Sie erzählte noch von ihrer Audienz bei Kaiser Franz Joseph, »zu der man nicht gebeten, sondern befohlen wurde. Mein langes, schwarzes Audienzkleid war vom Salon Drecoll am Kohlmarkt angefertigt worden. Der Kaiser, ein wirklich feiner Herr, damals schon über achtzig, stand, als ich den Audienzsaal betrat, an seinem Stehpult. Er kam mir entgegen, reichte mir die Hand und sagte: ›Es tut mir leid, daß ich Sie noch nie auf der Bühne gesehen habe. Ich komm’ halt gar nicht mehr ins Theater. Aber meine Tochter Valerie hat Sie schon oft bewundert und mir davon berichtet.‹« Er nahm Rosa Albach-Rettys Dank für die Ernennung zur Hofschauspielerin entgegen, und schon war die Audienz wieder beendet.

      »Es ist ja köstlich, sagte sie dann noch, daß meine Enkelin in mehreren Filmen ausgerechnet die Frau jenes Mannes spielte, dem ich damals begegnet bin. Und wie sich die Zeiten geändert haben: Romy ist vor ein paar Jahren zufällig im selben Flugzeug gesessen wie Otto von Habsburg. Als sie in Madrid landeten, СКАЧАТЬ