Название: Honoré de Balzac – Gesammelte Werke
Автор: Honore de Balzac
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Gesammelte Werke bei Null Papier
isbn: 9783962815226
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»Was hat das Spital denn so Furchtbares?« fragte die schreckliche Aquilina. »Wenn wir weder Mütter noch Gattinnen sind, wenn das Alter uns schwarze Strümpfe auf die Beine und Runzeln über unsere Stirnen zieht, wenn es alles, was an uns Weib ist, welk macht und die Freude in den Blicken unserer Freunde auslöscht, was können wir dann noch weiter wollen? Von all unserer jetzigen Schönheit seht ihr nur mehr ein Stück Dreck in uns, das auf zwei Beinen einherschlottert, kalt, dürr und entstellt ist und im Gehen raschelt wie welkes Laub. Der schönste Putz wird uns zu Lumpen, das Ambra, das unser Boudoir durchduftete, riecht nach Moder und Verwesung; und wenn in diesem Kot ein Herz steckt, so sprecht ihr alle ihm Hohn und gestattet uns nicht einmal die Erinnerung. Ob wir also dann in einem reichen Haus wohnen und Hunde warten oder im Spital Lumpen sortieren, ist unser Dasein nicht genau dasselbe? Ob wir unsere weißen Haare unter einem rot-blau karierten Taschentuch oder unter Spitzen verstecken, ob wir die Straße mit Rutenbesen oder die Stufen der Tuilerien mit Atlasschleppen fegen, ob wir an vergoldeten Kaminen sitzen oder uns die Hände an einem irdenen Kohlen-Topf wärmen, dem Spektakel auf der Place de Grève zuschauen oder in die Oper gehen: Ist das ein so großer Unterschied?«
»Aquilina mia, niemals hast du in all deiner Verzweiflung so recht gehabt«, sagte Euphrasie; »ja, Kaschmir, Spitzen, Parfüms, Gold, Seide und Luxus, alles, was glänzt, was gefällt, steht nur der Jugend gut. Die Zeit allein könnte gegen unsere Torheiten recht behalten, aber das Glück spricht uns frei. – Sie lachen über meine Worte«, rief sie und lächelte den beiden Freunden boshaft zu; »habe ich nicht recht? Ich sterbe lieber am Vergnügen als an einer Krankheit. Ich habe weder die Manie, lange leben zu wollen, noch großen Respekt vor der menschlichen Gattung, wenn ich sehe, was Gott daraus macht. Gebt mir Millionen, ich werde sie durchbringen; nicht einen Centime davon würde ich für das nächste Jahr sparen. Leben, um zu gefallen und zu herrschen, das ist die Maxime, die jeder Schlag meines Herzens kundgibt. Die Gesellschaft pflichtet mir bei; befriedigt sie nicht dauernd meine Vergnügungssucht? Warum läßt mir denn der liebe Gott jeden Morgen zukommen, was ich am Abend ausgebe? Warum baut ihr uns Spitäler? Da er uns nicht die Wahl gelassen hat zwischen dem Guten und dem Bösen, damit wir wählen, was uns kränkt und widerwärtig ist, so wäre ich ja sehr dumm, wenn ich mich nicht amüsierte.«
»Und die anderen?« fragte Émile.
»Die anderen? Nun, mögen sie doch nach ihrer Fasson selig werden! Ich will lieber über ihre Leiden lachen, als über meine eigenen weinen zu müssen. Ich rate es keinem Mann, mir den geringsten Kummer zuzufügen.«
»Was hast du denn gelitten, um so zu denken?« fragte Raphael.
»Ich bin um einer Erbschaft willen verlassen worden! Ich!« sagte sie und nahm eine Haltung an, die alle ihre Reize hervortreten ließ. »Und dabei habe ich Tag und Nacht gearbeitet, um meinen Geliebten zu ernähren. Ich will auf kein Lächeln, auf keine Versprechungen mehr reinfallen und aus meinem Leben eine lange Vergnügungspartie machen.«
»Aber«, rief Raphael aus, »kommt das Glück denn nicht aus der Seele?«
»Nun«, erwiderte Aquilina, »ist es nichts, sich bewundert, umschmeichelt zu sehen, über alle Frauen, selbst die tugendhaftesten, zu triumphieren, sie mit unserer Schönheit, unserem Reichtum in den Schatten zu stellen? Überhaupt, erleben wir an einem Tage nicht mehr als eine gute Bürgersfrau in zehn Jahren? Und damit ist alles gesagt.«
»Ist eine Frau ohne Tugend nicht verabscheuungswürdig?« versetzte Émile, zu Raphael gewandt.
Euphrasie warf ihnen einen Schlangenblick zu und antwortete mit unnachahmlicher Ironie: »Die Tugend überlassen wir den Häßlichen und Buckligen. Was wären sie denn ohne diese, die Armen?«
»Schweig!« rief Émile, »sprich nicht von Dingen, die du nicht kennst.«
»So! Ich kenne sie nicht!« rief Euphrasie. »Sich sein ganzes Leben lang einem verhaßten Menschen hingeben, Kinder aufziehen, die einen verlassen, und ihnen auch noch Danke sagen, wenn sie einen ins Herz treffen: das sind die Tugenden, die ihr von der Frau verlangt; und um sie für ihre Entsagung zu belohnen, legt ihr ihr neue Leiden auf, indem ihr sie zu verführen sucht; widersteht sie, so kompromittiert ihr sie. Ein schönes Leben! Nein, lieber doch frei bleiben, die lieben, die uns gefallen, und jung sterben.«
»Fürchtest du denn nicht, dafür eines Tages zahlen zu müssen?«
»Nun«, antwortete sie, »statt meine Freuden mit Leid zu mischen, wird mein Leben in zwei Hälften zerteilt: eine gewiß fröhliche Jugend und ein wer weiß wie ungewisses Alter, wo ich nach Belieben leiden kann.«
»Sie hat nie geliebt«, sagte Aquilina mit dunkler Stimme. »Sie hat niemals 100 Meilen zurückgelegt, um mit tausend Wonnen einen Blick zu erhaschen und ein ›Nein‹ zu hören; sie hat ihr Leben nie an ein Haar gehängt, hat nicht soundso viele Männer niederstechen wollen, um ihren Herrn, ihren Herrscher, ihren Gott zu retten. Für sie war die Liebe ein hübscher Oberst.«
»Haha! La Rochelle!« erwiderte Euphrasie. »Die Liebe ist wie der Wind, wir wissen nicht, woher sie kommt. Im übrigen, wenn ein Tier dich sehr geliebt hätte, würdest du die vernunftbegabten Menschen verabscheuen.«
»Das Gesetz verbietet uns, Tiere zu lieben«, versetzte die große Aquilina spöttisch.
»Ich glaubte, du seist nachsichtiger gegen das Militär!« rief Euphrasie lachend.
»Wie glücklich sind die Frauen, daß sie sich so ihrer Vernunft entäußern können!« rief Raphael aus.
»Glücklich?« fragte Aquilina, lächelte mitleidig und entsetzt und warf den beiden Freunden einen furchtbaren Blick zu. »Ach! ihr wißt nicht, was es heißt, mit einem Toten im Herzen zum Vergnügen verdammt zu sein.«
Wer zu diesem Zeitpunkt einen Blick in die Salons getan hätte, der hätte eine Vorstellung von Miltons Pandämonium104 bekommen. Die blauen Flammen des Punsches malten Höllenfarben auf die Gesichter derer, die noch trinken konnten. Frenetische Tänze, angepeitscht von einer wilden Besessenheit, erregtem Gelächter und Geschrei, das losballerte wie ein Feuerwerk. Das Boudoir und ein kleiner Salon sahen aus wie ein von Toten und Sterbenden übersätes Schlachtfeld. Die Atmosphäre war vom СКАЧАТЬ