Название: Der Onyxpalast 4: Schicksalszeit
Автор: Marie Brennan
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Der Onyxpalast
isbn: 9783966580762
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Im gedämpften Tonfall eines Mannes, der einen Arzt um eine Auskunft bat, die seiner Befürchtung nach eine schlechte Nachricht wäre, fragte Winslow: »Was wird das mit dem Onyxpalast machen?«
Lune schloss die Augen. Sie brauchte sie nicht, um ihr Reich anzusehen, den Feenpalast, der sich unter der Quadratmeile erstreckte, die von der Mauer eingeschlossen wurde. Jenes schwarze Gestein hätte ihre eigenen Knochen sein können, denn eine Feenkönigin herrschte durch die Verbindung zu ihrem Reich. »Ich weiß es nicht«, gestand sie ein. »Vor fünfzig Jahren, als das Parlament General Monck befahl, die Tore aus ihren Angeln zu reißen, befürchtete ich, dass es dem Palast schaden könnte. Dabei kam nichts heraus. Vor vierzig Jahren, als das Große Feuer die Eingänge zu diesem Ort verbrannte und sogar die St.-Pauls-Kathedrale, befürchtete ich, dass wir uns davon nicht erholen würden. Das wurde wiederaufgebaut. Aber jetzt …«
Jetzt hatten die Sterblichen von London vor, einen Teil der Mauer einzureißen – ihn einzureißen und nicht zu ersetzen. Weil die Tore ausgebaut waren, konnte sich die Stadt im Krieg nicht länger schützen. In Wirklichkeit hatte sie auch keinen Bedarf mehr, das zu tun. Was die Mauer selbst zu wenig mehr als einer historischen Kuriosität machte und zu einem Hindernis für das Wachstum von London.
Vielleicht würde der Palast dennoch stehen bleiben, wie ein Tisch, dem ein Bein weggebrochen war.
Vielleicht aber auch nicht.
»Es tut mir leid«, sagte Winslow erneut und hasste die Unzulänglichkeit der Worte. Er war ihr sterblicher Gefährte, der Prinz vom Stein. Es war sein Privileg und seine Pflicht, jene Punkte zu überwachen, an denen sich Feenlondon und das sterbliche London rieben. Lune hatte ihn gebeten, die Zerstörung der Mauer zu verhindern, und er war gescheitert.
Lunes Haltung war selten etwas anderes als perfekt, doch irgendwie richtete sie sich noch mehr auf und straffte die Schultern, sodass diese eine Linie bildeten, die zu erkennen er gelernt hatte. »Es war eine unmögliche Aufgabe. Und vielleicht eine unnötige. Der Palast hat schon früher Schwierigkeiten überlebt. Aber wenn sich daraus irgendwelche Probleme ergeben, dann werden wir sie lösen, genau wie wir es immer getan haben.«
Sie bot ihm ihren Arm an, und er nahm ihn und führte sie mit förmlicher Höflichkeit aus dem Raum. Zurück zu ihrem Hofstaat, einer Welt aus Feen, die sowohl freundlich als auch grausam waren, und den wenigen Sterblichen, die von ihrer Präsenz unter London wussten.
Hinter ihnen, allein im leeren Raum, schwebten die Lichter wieder frei, und die Karte löste sich zu bedeutungslosem Chaos auf.
TEIL EINS
Februar-Mai 1884
»Ich erblicke London; ein menschlich schreckliches Wunder Gottes!« WILLIAM BLAKE
»Jerusalem: The Emanation of the Giant Albion«
»Oh Stadt! Oh neuester Thron! Wo ich erzogen wurde, um ein Mysterium aus Lieblichkeit für alle Augen zu sein, die Zeit ist fast gekommen, da ich dieses glorreiche Heim aufgeben muss für neue Entdeckungen: Bald werden jene strahlenden Türme sich mit dem Wink ihres Zauberstabs verfinstern. Verfinstern, und schrumpfen und zu Hütten erbeben, schwarze Flecken in einer Wüste aus ödem Sand, niedrig gebaut, mit Lehmwänden, barbarische Siedlung, wie verändert von dieser schönen Stadt!« ALFRED, LORD TENNYSON »Timbuctoo«
»Eine große Stadt ist wie ein Wald– es ist nicht ihre Gesamtheit, die man über dem Boden sieht.« MR. LOWE, Parlamentsmitglied Ansprache bei der Eröffnung der Metropolitan Railway, abgedruckt in der Times, 10. Januar 1863
Mit genug Zeit kann alles vertraut genug werden, dass man es ignorieren kann.
Sogar Schmerz.
Die sengenden Nägel, die durch ihr Fleisch getrieben wurden, schmerzen so, wie sie es immer getan haben, doch jener Schmerz ist bekannt, gezählt, in ihre Welt aufgenommen. Wenn ihr Körper auf einer Streckbank gefesselt ist, Muskeln und Sehnen zerrissen und von der Folter vernarbt, hat ihn zumindest in letzter Zeit niemand weiter gestreckt. Dies hier ist vertraut. Sie kann es ignorieren.
Aber das Unvertraute, das Unvorhersehbare, stört diese Missachtung. Dieser neue Schmerz ist unregelmäßig und intensiv, nicht die stetige Qual von zuvor. Er ist ein Messer, das in ihre Schulter getrieben wird, eine plötzliche Pein, die wieder durch sie sticht. Und wieder. Und wieder.
Sie kriecht immer näher an ihr Herz.
Jeder neue Stich erweckt all den anderen Schmerz, jeden blutenden Nerv, den sie zu akzeptieren gelernt hat. Nichts kann noch ignoriert werden. Alles, was sie tun kann, ist es zu ertragen. Und das tut sie, weil sie keine Wahl hat. Sie hat sich an diese Qual gebunden, mit Ketten, die von keiner Kraft außer dem Tod gesprengt werden können.
Oder vielleicht der Erlösung.
Wie ein Patient, der von einer Seuche niedergestreckt wurde, wartet sie, und in ihren wachen Augenblicken betet sie um ein Heilmittel. Kein Arzt existiert, der diese Krankheit behandeln kann, aber vielleicht – wenn sie lange genug aushält – wird sich jemand jene Wissenschaft selbst beibringen und sie vor diesem schrecklichen, schrittweisen Tod retten.
Das hofft sie, und sie hofft es schon länger, als sie sich erinnern kann. Doch jeder Stich bringt das Messer so viel näher an ihr Herz.
So oder so, sie wird nicht viel länger durchhalten müssen.
Die Monsterstadt strotzte vor Leben. Ihre Straßen, wie große und kleine Arterien, pulsierten im Verkehrsstrom: Hackneys und Privatkutschen, Omnibusse, die vor Passagieren drinnen und draußen fast platzten, Pferdetrams, die auf ihren Eisenschienen vorbeiratterten. Fußgänger, Reiter, Menschen auf den unglaublichsten Rollern und Fahrrädern. Auf dem Fluss Schiffe: Wälder aus Masten und Kaminen, Segelschiffe, die Fracht hin und her transportierten, Fähren, die Passagiere auf Stege spuckten, die vom stinkenden Ufer wegragten. Züge donnerten aus den Vorstädten herbei und wieder hinaus, die Bevölkerung stieg an und sank, als würde die Stadt atmen.
Die Luft, die ihre Lungen füllte, war aus zahllosen verschiedenen Arten der Menschlichkeit gemacht. Die Hochgestellten und die Niedriggestellten, die vor Diamanten oder Tränen der Verzweiflung glitzerten, Dutzende Sprachen in Hunderten Akzenten hören ließen, dicht gedrängt lebten, übereinander und untereinander und nebeneinander, doch völlig unterschiedliche Welten bewohnten. Die Stadt schloss sie alle ein: Lebend und sterbend bildeten sie einen Teil des gewaltigen Organismus, der täglich drohte, sie mit seinem gleichzeitigen Wachsen und Verfall zu ersticken.
Dies war London, in all seinem Schmutz und seiner Pracht. Mit Nostalgie für die Vergangenheit, während es danach strebte, die Ketten vergangener Zeitalter zu sprengen und nach vorn in die strahlende Utopie der Zukunft zu treten. Stolz auf seine Leistungen, doch voll Verachtung für seine eigenen Makel. Ein Monster, sowohl in Größe als auch Charakter, das die Unachtsamen verschlingen und in nicht wiederzuerkennender und niemals erträumter Form wieder ausspeien würde.
London, die Monsterstadt.
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