Название: Das polnische Haus
Автор: Radosław Sikorski
Издательство: Bookwire
Жанр: Изобразительное искусство, фотография
Серия: eva digital
isbn: 9783863935016
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Die Fernsehserie, die ich am meisten liebte, hieß Czterej Pancerni i Pies – »Vier Panzerkameraden und ein Hund«. Sie lief Sonntag morgens – damit, so vermuteten wir, die Eltern es nicht leicht hatten, ihre Kinder mit in die Messe zu zerren. Zusätzlich zur Serie gab es eine Quizsendung und eine wöchentliche Preisfrage, die sich um die Schlachten der polnischen Armee an der Front drehte. Unter den Einsendern der richtigen Antwort wurde als Hauptpreis jeweils ein echter Helm der Panzertruppen verlost, komplett mit Futter, Kopfhörer und einem Verbindungskabel, das man lässig herunterbaumeln lassen konnte. Ich weiß noch, wie ich vor Neid erblaßte, als ich eines Tages einen Jungen in meiner Nachbarschaft mit so einem Helm herumstolzieren sah. (Später erfuhr ich, daß sein Vater Oberst war und den Helm wahrscheinlich aus Armeerestbeständen »organisiert« hatte.)
Die Geschichte der Panzergrenadiere begann mit Janek, dem Jüngsten des Quartetts, der im Jahre 1943 in Sibirien lebte. Weil er oft auf Bärenjagd ging, war er ein Superschütze. Eines Tages las er in seiner entlegenen Hütte eine Zeitung: In der Sowjetunion wurde ein polnisches Heer gebildet. Ohne zu zögern, meldet er sich als Freiwilliger, und nach vielen Abenteuern nimmt er zusammen mit seinen sympathischen sowjetischen Kameraden an der Befreiung Polens teil. Erst viele Jahre später, als ich schon in London war und die Bücher polnischer Emigranten las, fragte ich mich, was Janek überhaupt nach Sibirien verschlagen hatte. Die Fernsehserie verschwieg, daß Janeks Familie, zusammen mit etwa einer Million anderer Polen, nach Osten deportiert wurde, als 1939 die Sowjetarmee und die Wehrmacht Polen besetzten und unter sich aufteilten.
In den Polnischstunden lasen wir Kurzgeschichten und schrieben Aufsätze über Lenin: Lenin als Musterschüler, Lenin der Revolutionsführer, Lenin während seiner Verbannung nach Ostsibirien, von wo er Briefe an die Mutter schrieb und ein Tintenfäßchen aus Brot verwendete. Bis in ein gewisses Alter hinein muß die Indoktrination offensichtlich funktioniert haben, denn mit elf Jahren schrieb ich folgende Zeilen zum Thema »Beschreibe Lenin«:
Wladimir Iljitsch wurde 1870 geboren und stammte aus proletarischen Verhältnissen. Nach dem Abitur studierte er an der Kaiserlichen Universität von Kasan. Von 1917 bis 1918 leitete er die Große Oktoberrevolution. Lenin war eine zurückhaltende, bescheidene Person. Oft lief er nachdenklich herum. Er ist Autor vieler Bücher über Wirtschafts- und Gesellschaftsfragen. Er war ein begnadeter Anführer der Revolution. Schon als Jugendlicher war er ein Patriot. Er haßte den Zaren. Er hatte immer ein Herz für die Schwachen und Leidenden. Er war sehr väterlich. Er war ein edler und guter Mensch, und deshalb wurde er von den Handlangern des Zaren umgebracht.
Lenin spielte auch eine Rolle im obligatorischen Russischunterricht. Das Schulbuch brachte uns dieses Gedicht nahe:
Wenn die Sonne aufgeht
und ins Klassenzimmer schaut,
erstrahlt hell
ein Porträt an der Wand.
Wie zum Gruß
für einen schönen Tag
schaut mich Iljitsch
wie leibhaftig an.
Majakowskijs revolutionäre Gedichte lernte ich auswendig. Ich weiß noch, wie ich einmal vor der ganzen Klasse eins aufsagen mußte: »Das Individuum ist nichts, das Individuum ist nichtig. Die Partei ist alles«, so oder ähnlich lautete der Text. Es hing einiges davon ab, es besonders gut vorzutragen, denn so konnte ich gerade noch meine Note für das bevorstehende Zeugnis verbessern. Aus demselben Grund sang ich brav die Internationale im Gesangsunterricht.
Mit zwölf Jahren war ich immer noch formbar. Ja, mein altes Schulheft aus jener Zeit läßt tief blicken, was meinen damaligen Opportunismus anbelangt. Für den 30. April 1975 mußte zum Beispiel eine Hausaufgabe zum Thema »Der 1. Mai in K.I. Gałczynskis Gedicht ›Ein Marsch durch die Straßen der Welt‹ « geschrieben werden. Wir Schüler sollten anhand von Versen aus dem Gedicht die jeweiligen Maifeierlichkeiten in den sozialistischen bzw. kapitalistischen Ländern miteinander vergleichen. Ich erfüllte die Aufgabe vorbildlich:
IN SOZIALISTISCHEN LÄNDERN
Golden strahlt das Rot im Licht der Sonne;
Fahnen flattern auf den Straßen und auf Brücken;
die Parade schreitet voran und mit ihr – der Frühling.
Die Parade ist glanzvoll und feierlich;
Genossen aus allen Berufen sind gekommen;
alle feiern sie den großen Tag.
IN KAPITALISTISCHEN LÄNDERN
So jedoch schreitet die Welt einem neuen Zeitalter entgegen. Jahr für Jahr wächst die Bewegung. Wie an einem Lagerfeuer wärmen sich die Unterdrückten die Hände an der roten Fahne.
In den kapitalistischen Ländern sind die Feiern verboten. Demonstrationen werden von Polizei und Armee aufgelöst. Am 1. Mai kämpfen wir für Gleichheit und Brüderlichkeit.
In den Schulpausen beteiligten wir uns an »Friedenskampagnen«. Man konnte spezielle Auszeichnungen und bessere Noten bekommen, wenn man mithalf, Plakate für das Schwarze Brett der Schule zu machen. Darauf waren dann Vietnamesen mit großen Strohhüten zu sehen, auf die amerikanische Bomben herabregneten, oder vielleicht auch nur amerikanische Bomben: dicke, bedrohliche schwarze Dinger, die mit einem großen roten X durchgestrichen und einem »Nein!« überschrieben waren. Andere Plakate zeigten Kinder aus friedlichen sozialistischen Ländern Hand in Hand oder beim Gruppentanz, über ihren Köpfen eine weiße Taube.
Die jährlichen Schulwahlen waren ein weiteres wichtiges Ereignis. Die Mitglieder des Klassenrats, unser »Schülerselbstverwaltungskomitee«, wurden durch angeblich freie Wahlen bestimmt. Die Schulwahlen, so erzählte man uns, wären nur ein kleines Beispiel für die Funktionsweise der sozialistischen Demokratie – was auch tatsächlich zutraf. Es gab keine Wahlwerbung, keine Wahlreden, keine Versprechungen (nicht einmal leere), sich zum Beispiel um das miese Essen in der Schule zu kümmern, und auch kein Gremium, das für die Aufstellung der Kandidaten zuständig gewesen wäre. Irgendwie prangte an der Spitze der Wahlliste immer der Name Jacek W., der wohl unbeliebteste Junge der ganzen Schule. Jacek W. war ein typischer Streber, der für gewöhnlich mit einer roten Krawatte angab und bei Versammlungen das Wort ergriff, um linientreue Sprüche nachzuplappern. Wir mochten ihn alle nicht; niemand hat jemals zu erkennen gegeben, daß er für ihn gestimmt hätte, und doch gewann dieser Jacek immer wieder. Es war wie ein Ritual, das wir über uns ergehen ließen, so wie auch die Parlamentswahlen für unsere Eltern eine rituelle Veranstaltung mit vorab bekanntem Ausgang waren.
Trotz der unübersehbaren Heuchelei wurden alle patriotischen Veranstaltungen – Wahlen, Versammlungen, Paraden – mit dem Ernst einer religiösen Zeremonie begangen; und nach jedem solchen Ereignis mußte irgendein armer Teufel nachsitzen und das Ganze in unserer Schulchronik festhalten. Die Chronik meiner Grundschule (ich konnte mir die dicken Kunstlederbände vor kurzem einmal anschauen) fängt mit Zeitungsausschnitten an, die über die Schuleröffnung im September 1967 berichten. Das Band wurde feierlich zerschnitten vom Genossen W. Soporowski, dem ersten СКАЧАТЬ