Название: Das polnische Haus
Автор: Radosław Sikorski
Издательство: Bookwire
Жанр: Изобразительное искусство, фотография
Серия: eva digital
isbn: 9783863935016
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Während die Schule unermüdlich ihren Hirnwäscheversuch betrieb, wurden mir nach Schulschluß im Kommunionsunterricht traditionelle moralische Werte nahegebracht. Der Fußweg zur Basilika dauerte eine gute halbe Stunde, und wir wurden dort in kleinen Räumen zusammengepfercht, doch das war alles nicht schlimm. Unsere Schullehrer lehnten den Kommunionsunterricht ab, und schon deshalb gab uns die Teilnahme daran ein wunderbar rebellisches Gefühl. Wir warteten geduldig auf dem Flur im vierten oder fünften Stock in einem der Seitenflügel der Kirche, bis ein Priester oder eine Nonne uns auf altmodischen Schulbänken Platz nehmen ließ. Wir lauschten vielen Bibelgeschichten, doch aus der Schrift selbst wurde nicht gelesen. Außerdem lernten wir den Katechismus in einer Fassung für Kinder aus der Zeit um 1590. Intellektuell gesehen wurde ich in diesem Unterricht nur ein einziges Mal wirklich angeregt. Unser Priester, den wir wegen seiner unnatürlich roten Backen den »Säufer« nannten, lehrte uns Beweise für die Existenz Gottes, die vor allem den Sinn hatten, uns gegen den in der Schule verbreiteten darwinistischen Unfug zu immunisieren. Besonderes Gewicht legte er auf das Argument der zweckgerichteten Ordnung der Welt (die Welt sei so komplex, daß sie einen zwecksetzenden Geist unterstelle). Der Säufer fügte an dieser Stelle einen schlagenden Beweis hinzu. »Seht her«, rief er begeistert, stellte sich hin und breitete die Arme aus, »Gott beweist uns seine Existenz sogar durch die Form unserer Körper«, und er strahlte uns triumphierend an. »Bedenkt, daß euer eigener Körper die Form des Kreuzes hat!«
Wie die meisten meiner Freunde ging ich im Alter von zehn Jahren zur ersten Kommunion. Für diesen Anlaß bekam ich meinen ersten Anzug. Vorher wurden wir noch über die Todsünden aufgeklärt, die die Teilnahme an der Kommunion ausschlossen, und über die läßlichen Sünden, die verzeihlich waren und nicht erforderten, daß man vorher noch einmal zur Beichte ging. Eine Woche vor dem großen Tag bildeten wir von zwei Seiten eine Schlange vor dem neobarocken Beichtstuhl, in dem sich sowohl links als rechts neben dem Priester eine Kabine befand. Während auf der einen Seite jemand seine Reue bekundete und sein Schlußgebet sprach, konnte sich der Beichtvater auf der anderen Seite bereits einer weiteren Sündenlitanei widmen.
Wie alle anderen auch bereitete ich mich auf meine erste Beichte vor, indem ich meine Vergehen auf einem Zettel auflistete und dazu die passenden Abbitteformeln schrieb, nur für den Fall, daß mich mein Gedächtnis im Stich ließ. Das Notieren seiner Sünden war zwar genauso verpönt wie das Abschreiben in der Schule, aber die Beichte war ja anonym, und sollten wir rein zufällig auf einen unserer Priester aus dem Unterricht stoßen, so hätte er uns an unserem Flüstern sowieso nicht erkennen können. Auf dem Weg in die Kirche umklammerte ich den Zettel fest in der Hosentasche, denn ich hatte schreckliche Angst, daß er herausfallen und von einem Klassenkameraden gefunden werden könnte, der meine Schrift kannte. Würde Gott mir vergeben, daß ich während einer Pause auf der Schultoilette geraucht hatte? Und was war mit dem Schuleschwänzen in mehreren Fällen? Wenn Gott mir nur erlaubte, einen neuen Anfang zu machen, wollte ich fortan ein guter Junge sein! Ich wollte mich wirklich bessern. Ich hörte ein Klopfen an der Wand des Beichtstuhls und lateinische Worte, die für mich gesprochen wurden. Nach einer sanften Ermahnung sagte der Priester mir, wie ich Buße zu tun hatte. Ich stand zitternd auf und taumelte aus dem Beichtstuhl mit einem Gefühl von Glückseligkeit und Reue, das so stark war, daß ich fast vergessen hätte, das Zertifikat mitzunehmen, das mich zur Teilnahme an der ersten Kommunion berechtigte. Ich würde sagen, daß eine ordentliche Beichte den Geist wirksamer befreit als eine monatelange Psychoanalyse.
Die Zeremonie war ein spektakuläres Ereignis. In langen Reihen schritten wir – Jungen in identischen Anzügen und Mädchen in weißen Kleidern, alle mit einer großen Kerze in der Hand – auf die Balustrade zu wie ein Ensemble von Tänzern in einer riesigen Ballettproduktion.
Für die meisten Leute war nach der Grundschule Schluß mit dem Religionsunterricht, aber ich machte aus eigenem Antrieb weiter. Während unsere rebellischen Zeitgenossen im Westen sich anarchistischen Gruppierungen anschlossen oder Drogen durchprobierten, äußerte unser Protest sich darin, daß wir Pilgerfahrten unternahmen, einen Straßenaltar für die Corpus-Christi-Prozession bastelten oder die Kapelle kehrten. In einer feierlichen Zeremonie wurde ich mit vielen anderen Jugendlichen firmiert, indem uns der Bischof der Reihe nach heiliges Öl auf die Schläfe rieb. Ich besuchte auch die übliche voreheliche Beratung, die allerdings für mich zum damaligen Zeitpunkt rein theoretischen Charakter besaß. Dort bekamen wir einige nützliche Ratschläge. Zum Beispiel sollte man nach einem Streit mit seinem Ehepartner niemals schlafen gehen, ohne sich vorher zu versöhnen. Das Kapitel Empfängnisverhütung kam jedoch etwas zu kurz, sowohl in der Schule als auch in der Kirche, und als ich mit achtzehn Jahren in England eintraf und zum ersten Mal von der »Temperaturmethode« hörte, mußte ich wohl annehmen, daß es sich dabei um besonders heißen Sex handelte.
Die Kirche behielt immer die Oberhand im Kampf um meine Seele. Wo die Schullehrer versuchten, uns den Kommunismus in die Köpfe zu hämmern, und einen abstrusen Jargon benutzten, gespickt mit Begriffen, die sie selbst kaum verstanden, dort sprachen die Priester ein einfaches Polnisch und Wörter, die eher auf das Herz zielten als auf den Kopf. Die Lehrer verkündeten Theorien, die Priester erzählten Geschichten von Menschen, auch wenn es sich um Menschen handelte, die seit langem tot waren. Die unbeholfenen Bemühungen der Schule waren nichts gegen die bedingungslose Hingabe und die geschickten Methoden meiner Großmutter. Sie löste in mir pawlowsche Reflexe aus, indem sie mir jedesmal ihre Anerkennung spendete – oder eine Tafel Schokolade, zu der Zeit eine seltene Delikatesse –, wenn ich zur Beichte gegangen war oder die gewünschte gute Tat vollbracht hatte.
An einem Tag im Jahre 1978 stand die Hegemonie der Kirche über meine Seele ein für allemal fest. Ich war in meinem Zimmer und wollte schnell meine Hausaufgaben machen, damit ich später einen Fernsehfilm sehen durfte. Plötzlich hörte ich, wie meine Mutter nebenan einen Schrei ausstieß. Ich eilte ins Wohnzimmer, wo meine Eltern am Schwarzweißfernseher klebten. Wie die meisten Menschen in Polen guckten sie die Abendnachrichten um halb acht. Der Nachrichtensprecher, der Tag für Tag die immergleichen Lügen herunterleierte, war feierlicher gekleidet als sonst und hatte neben sich auf seinem Pult einen Blumenstrauß. Normalerweise las er die Nachrichten mit versteinerter Miene, doch diesmal schien er durch irgend etwas gerührt zu sein. In seiner Stimme klang ein gewisser Stolz durch, daran bestand kein Zweifel, auch wenn sich nicht sagen ließ, ob er echt oder nur geheuchelt war. Jedenfalls wußte ich immer noch nicht, was passiert war, als auf einmal Bilder aus Rom eingespielt wurden, vom Balkon am Petersplatz und dann von einem Geistlichen, der sich an die gigantische Menschenmenge auf dem Platz wandte.
Der Geistliche verkündete: »Habemus Papam«, und die Menge schwieg. Er schielte auf einen Notizzettel und gab sich Mühe, den Namen des frischgewählten Papstes richtig auszusprechen: »Karol Wojtyła.« Die Menge zögerte einen Moment lang – offenbar überrascht durch die getroffene Wahl –, doch dann entbrannten ein Beifallssturm und ein Blitzlichtgewitter. Nur Sekunden später erschien das wohlvertraute Gesicht des Erzbischofs von Krakau, der die Zuschauer auf dem Platz segnete. Meine Eltern, sogar mein Vater, weinten vor Freude. Bis spät in die Nacht riefen Freunde und Verwandte an, um sich über die großartige Nachricht zu unterhalten.
Am nächsten Morgen, als ich mit der Buslinie 52 zur Schule fuhr, spürte ich zum ersten Mal die himmelweite Kluft zwischen »uns«, dem Volk, und »ihnen«, den Herrschenden. »Wir« bildeten die Mehrheit der Passagiere auf der normalerweise trostlosen Fahrt; doch СКАЧАТЬ