Eine Studie in Scharlachrot. Arthur Conan Doyle
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Читать онлайн книгу Eine Studie in Scharlachrot - Arthur Conan Doyle страница 5

Название: Eine Studie in Scharlachrot

Автор: Arthur Conan Doyle

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783955012298

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СКАЧАТЬ nahm an, daß mein Gefährte ebenso ohne Freunde sei wie ich. Bald jedoch stellte ich fest, daß er viele Bekannte hatte, und zwar in den unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten. Es gab da einen kleinen blassen Burschen mit einem Rattengesicht und dunklen Augen, der mir als Mr. Lestrade vorgestellt wurde; er kam drei- oder viermal innerhalb einer einzigen Woche. Eines Morgens kam eine junge Frau vorbei, gekleidet nach der neuesten Mode, und blieb eine halbe Stunde oder länger. Derselbe Nachmittag brachte einen grauhäuptigen, verwahrlosten Besucher, der wie ein jüdischer Hausierer aussah und auf mich sehr aufgeregt wirkte; ihm folgte unmittelbar eine ältere, schlampige Frau. Bei einer anderen Gelegenheit führte ein alter, weißhaariger Gentleman ein Gespräch mit meinem Gefährten; bei wieder einer anderen war es ein Gepäckträger in seiner Manchester-Uniform. Wenn eines dieser schwer einzuordnenden Individuen erschien, pflegte Sherlock Holmes mich zu bitten, ihm den Wohnraum zu überlassen, und ich zog mich in mein Schlafgemach zurück. Er entschuldigte sich immer, daß er mir diese Unbequemlichkeit auferlegte. »Ich muß dieses Zimmer als Geschäftsraum verwenden«, sagte er, »und diese Leute sind meine Klienten.« Wieder bot sich mir die Gelegenheit, ihm eine direkte Frage zu stellen, und wieder ließ ich mich durch meine Feinfühligkeit davon abbringen, einen Menschen zu Vertraulichkeiten zu zwingen. In dieser Zeit glaubte ich, er habe starke Motive, nicht davon zu sprechen, aber er zerstreute diese meine Bedenken bald, indem er aus eigenem Antrieb auf das Thema zu sprechen kam.

      Es war am vierten März – ich habe gute Gründe, mich dessen zu entsinnen –, als ich ein wenig früher denn gewöhnlich aufstand; Sherlock Holmes hatte sein Frühstück noch nicht beendet. Die Wirtin war an meine späten Aufstehgebräuche so gewohnt, daß mein Platz noch nicht gedeckt und mein Kaffee noch nicht zubereitet war. Mit der unvernünftigen Übellaunigkeit des Mannes läutete ich und gab kurz angebunden zu verstehen, daß ich fertig sei. Dann nahm ich ein Magazin vom Tisch und suchte die Wartezeit damit zu verkürzen, während mein Gefährte schweigend seinen Toast verzehrte. Die Überschrift eines der Artikel war mit Bleistift markiert, und es war nur natürlich, daß ich den Text zu überfliegen begann.

      Der reichlich hochtrabende Titel lautete »Das Buch des Lebens«, und der Artikel mühte sich, aufzuzeigen, wie viel ein aufmerksamer Beobachter durch eine genaue und systematische Untersuchung all dessen, das ihm begegnet, zu lernen vermag. Es erschien mir als eine bemerkenswerte Mischung aus Scharfsinn und Absurdität. Die Argumentation war knapp und eindringlich, die Schlußfolgerungen hingegen erschienen mir weit hergeholt und übertrieben. Der Autor behauptete, eines Menschen geheimste Gedanken aus einem jähen Mienenspiel, dem Zucken eines Muskels oder dem Blick eines Auges erschließen zu können. Nach seinen Ausführungen war es unmöglich, einen in Beobachtung und Analyse Ausgebildeten zu täuschen. Seine Schlußfolgerungen waren ebenso unfehlbar wie die Beweisführungen von Euklid. Seine Ergebnisse mußten Uneingeweihte so sehr verblüffen, daß sie ihn durchaus für einen Schwarzen Magier halten mochten, bis sie die Verfahren erlernten, mit deren Hilfe er zu den Schlüssen gelangt war.

      »Aus einem Wassertropfen«, stellte der Autor fest, »könnte ein Logiker auf die Möglichkeit eines Atlantik oder eines Niagara schließen, ohne von diesen gehört oder sie gesehen zu haben. So betrachtet ist alles Leben eine große Kette, deren Wesen sich erhellt, wann immer wir ein einziges ihrer Glieder zu Gesicht bekommen. Wie alle anderen Künste läßt sich die Wissenschaft der Deduktion und Analyse nur durch langes und geduldiges Studium erwerben; auch ist das Leben nicht lang genug, um es einem Sterblichen zu gestatten, die höchstmögliche Vollkommenheit darin zu erreichen. Bevor er sich jenen moralischen und geistigen Aspekten des Vorgangs widmet, die die größten Schwierigkeiten darstellen, beginne der Forscher mit der Meisterung der elementareren Probleme. Wenn er einem anderen Sterblichen begegnet, so lerne er, auf einen Blick die Geschichte des Mannes zu erfassen und seine Zunft oder seinen Berufsstand zu bestimmen. So kindisch solch eine Übung erscheinen mag, schärft sie doch die Fähigkeit des Beobachtens und lehrt ihn, wohin er zu sehen und worauf er zu achten hat. Die Fingernägel eines Mannes, der Ärmel seines Mantels, seine Stiefel, die Knie seiner Hose, die Hornhaut seiner Daumen und Zeigefinger, sein Gesichtsausdruck, seine Manschetten – all diese Dinge offenbaren deutlich den Beruf eines Mannes. Daß all dies, zusammengenommen, den fähigen Forscher in auch nur einem einzigen Fall nicht erleuchten könnte, ist nahezu unvorstellbar.«

      »Was für ein unsägliches Geschwätz!« rief ich aus; ich knallte das Magazin auf den Tisch. »In meinem ganzen Leben habe ich noch nie solchen Unfug gelesen.«

      »Worum geht es?« fragte Sherlock Holmes.

      »Also, dieser Artikel«, sagte ich, wobei ich mit meinem Eierlöffel darauf deutete, als ich mich zum Frühstück niederließ. »Ich sehe, daß Sie ihn gelesen haben, Sie haben ihn ja angekreuzt. Ich will nicht leugnen, daß er sehr gut geschrieben ist. Trotzdem irritiert er mich. Das ist ganz offensichtlich die Theorie eines Stubenhockers, der in seinem Lehnstuhl sitzt und all diese netten kleinen Paradoxa ausheckt. Das ist doch in der Praxis nicht durchführbar. Ich möchte ihn mal sehen, wie er eingezwängt in einem Abteil Dritter Klasse in der Untergrund- Bahn steckt und aufgefordert wird, die Berufe aller Mitfahrenden aufzuzählen. Ich wäre bereit, tausend zu eins gegen ihn zu wetten.«

      »Sie würden Ihr Geld verlieren«, stellte Holmes ruhig fest. »Und den Artikel, den habe ich geschrieben.«

      »Sie!«

      »Ja. Ich habe eine Neigung sowohl zur Beobachtung als auch zur Deduktion. Die Theorien, die ich dort dargelegt habe und die Ihnen so chimärisch erscheinen, sind in Wirklichkeit äußerst praktisch – so praktisch, daß ich mit ihnen mein Brot und auch meine Butter verdiene.«

      »Wie das?« fragte ich unwillkürlich.

      »Also, ich habe einen besonderen Beruf. Ich glaube, ich bin der Einzige auf der Welt. Ich bin ein Beratender Detektiv, wenn Sie verstehen, was das ist. Hier in London haben wir jede Menge beamteter Detektive und etliche private. Wenn diese Leute nicht weiterwissen, kommen sie zu mir, und ich bringe sie auf die richtige Fährte. Sie legen mir alles Beweismaterial vor, und dank meines Wissens über die Geschichte des Verbrechens bin ich normalerweise in der Lage, ihnen weiterzuhelfen. Bei Untaten gibt es große Familienähnlichkeiten, und wenn Sie alle Einzelheiten von tausend Verbrechen kennen, dann wäre es äußerst seltsam, wenn Sie das tausendunderste nicht aufklären könnten. Lestrade ist ein bekannter Detektiv. Er hat sich neulich in einer Fälschungssache in den Sumpf geritten, und das hat ihn hergebracht.«

      »Und diese anderen Leute?«

      »Sie werden meistens von privaten Ermittlungsagenturen zu mir geschickt. Sie alle sind Leute, die in irgendeiner Klemme stecken und über etwas aufgeklärt werden möchten. Ich höre ihre Geschichten an, sie lauschen meinen Kommentaren, und dann streiche ich mein Honorar ein.«

      »Aber – wollen Sie damit sagen«, fragte ich, »daß Sie, ohne Ihr Zimmer zu verlassen, einen Knoten auflösen können, mit dem andere Leute nicht fertig werden, obwohl sie alle Einzelheiten selbst kennen?«

      »Genau das. Ich habe da eine Art Intuition. Hin und wieder gibt es einen Fall, der etwas komplizierter ist. Dann muß ich aktiv werden und mir alles selbst ansehen. Wissen Sie, ich verfuge über eine ganze Menge spezieller Kenntnisse, die ich auf das Problem anwende und die die Dinge wunderbar erleichtern. Diese Regeln der Deduktion, die in dem Artikel niedergelegt sind, der Ihren Tadel hervorrief, sind bei der praktischen Arbeit von unschätzbarem Wert für mich. Das Beobachten ist mir zur zweiten Natur geworden. Sie waren offenbar überrascht, als ich Ihnen bei unserer ersten Begegnung gesagt habe, daß Sie aus Afghanistan gekommen waren.«

      »Das hat Ihnen sicherlich jemand erzählt.«

      »Nichts dergleichen. Ich wußte, daß Sie aus Afghanistan gekommen waren. Aus langer Gewohnheit ist der Denkvorgang in mir so schnell abgelaufen, daß ich zu der Schlußfolgerung gelangt bin, ohne mir der Zwischenschritte bewußt zu sein. Der Denkprozeß lief folgendermaßen ab: ›Hier ist ein Gentleman der medizinischen Sparte, aber mit der Haltung eines СКАЧАТЬ