Название: Neuland unter den Sandalen
Автор: Christoph Müller
Издательство: Bookwire
Жанр: Книги о Путешествиях
isbn: 9783702232764
isbn:
Ahnungslos fuhr ich los und wollte den Weg Richtung Annonay einschlagen. Doch zum Glück verpasste ich die richtige Abzweigung. Ich bog in eine kleine Seitengasse und stand plötzlich vor einem völlig unscheinbaren Radgeschäft. Ein freundlicher Mann war sofort bereit, mir das Kabel auszuwechseln. Schon nach einer halben Stunde händigte er mir mein Rad für wenig Geld wieder aus. Ich gab ihm ein fürstliches Trinkgeld, worüber er sehr erstaunt war. Für ihn waren es nur ein paar Handgriffe gewesen – für mich aber hing die weitere Pilgerfahrt von seiner Hilfsbereitschaft ab.
Mit neuem Elan schwang ich mich auf mein geduldiges Stahlross. Dass es nun stundenlang aufwärts ging und der Schweiß nur so dahinrann, störte mich überhaupt nicht. Hauptsache war, dass alles perfekt funktionierte!
Bei einer kleinen Poststelle kaufte ich einige Briefmarken. Der freundliche Postbeamte ließ mich Platz nehmen und offerierte mir großzügig Orangensaft und Mineralwasser. Einfach so. Ich muss wohl wie ein Verdurstender ausgesehen haben. Als ich endlich auf der Anhöhe ankam, öffnete sich mir eine bezaubernde Landschaft, die mich an das Einsiedler Hochmoor erinnerte. Die folgende Abfahrt ließ dann alle Strapazen vergessen und animierte mich zu lautem Gesang. Und bald wartete ein einfacher Campingplatz auf mich. In großem Frieden schlief ich ein, diesmal ganz ohne Angst vor Ratten, Polizisten und Räubern.
NIE WIEDER!
9. Juli
Als ich am Morgen das Zelt öffnete, saß bereits die junge Elster, mit der ich schon am Vorabend Bekanntschaft gemacht hatte, beim Zelteingang und bettelte. Sie zeigte ein fachmännisches Interesse für alle Teile meines Fahrrads. Geschwisterlich teilten wir unser bescheidenes Frühstück. Daraufhin wich sie keinen Zentimeter mehr von meiner Seite und folgte mir überallhin.
Als für die Weiterreise alles bereitstand, lockte ich meine kleine Freundin hinter eine Baracke und gab ihr dort ein Stück glitzernde Alufolie. Das lenkte sie für einen kurzen Moment ab. Schnell rannte ich zum Rad und machte mich aus dem Staub. Ich ließ ein leicht frustriertes Elsterchen zurück.
Schon näherte ich mich Le Puy, einer der bedeutenden Etappen am Jakobsweg. Ich besuchte die Basilika, die hoch über der Stadt thront, und war überrascht, da oben eine Quelle mit Trinkwasser zu finden. Als verwöhnter Schweizer musste ich lernen, dass es in vielen Gegenden Frankreichs kaum Brunnen gibt. Die Suche nach dem lebensnotwendigen Nass wurde zu einer der Hauptsorgen auf dem Weg, besonders bei meiner Fahrt durch das französische Zentralmassiv, wo man selbst in größeren Ortschaften vergeblich nach Wasser sucht.
Bald nach Le Puy folgte eine böse Überraschung. Meine Landstraße mutierte unversehens zu einer Schnellstraße. Das Radfahrverbot war unübersehbar, aber niemand hatte an uns Radfahrer gedacht. So fuhr ich einfach weiter, als ob nichts wäre.
Aber nach 20 Kilometern war endgültig Schluss. Die Schnellstraße mündete nämlich in eine mehrspurige Autobahn. Nur mit größter Mühe hob ich mein schwer beladenes Rad über die Leitplanken. Nach Überquerung einer hässlichen Baustelle kam ich auf einen kleinen Feldweg. Der Sonne nach zu schließen führte er nach Westen, und so vertraute ich mich ihm blind an.
Doch schon bald wurde ich missmutig. Es war heiß und staubig, und ich hatte viel Zeit verloren. Am liebsten hätte ich mich flach auf den Boden gelegt, die Augen geschlossen und alles vergessen!
Da bog der Weg in eine Straße ein, und nach kurzer Zeit fuhr das Rad wieder wie von selber. Es ging unaufhaltsam bergab, die Abfahrt wollte und wollte nicht enden. Ich wähnte mich schon bald unter dem Meeresspiegel.
Aber es kam keine rechte Freude auf. Eine dunkle Ahnung sagte mir, dass es auf der anderen Talseite ebenso unaufhörlich wieder bergauf gehen könnte. Und so war es auch. Nur mit größter Mühe schaffte ich den Aufstieg. Mein ursprünglicher Plan, auch den Rückweg der Pilgerreise mit dem Rad zurückzulegen, bekam einen ersten Dämpfer. Und es sollten noch weitere folgen! Für den Moment stand fest: Das werde ich mir, koste es, was es wolle, kein zweites Mal antun.
Bei Sonnenuntergang erreichte ich eine verträumte Kleinstadt. Ich war am Ende meiner Kräfte. Nichts wies auf einen Zeltplatz hin. Doch ein Hotel kam für meinen Geldbeutel nicht in Frage. In meinem verschwitzten und armseligen Outfit hätte man mich wohl auch gar nicht aufgenommen.
Da kam ein guter Engel in Gestalt einer alten Frau auf mich zu. Sie wies mich auf eine versteckte Campingmöglichkeit hin, gleich um die Ecke. Was für ein Paradies erwartete mich da! Der von einem kleinen Fluss umspülte Platz war genau das, was ich jetzt brauchte. Schnell stieg ich ins kühle Nass. Hier konnte ich den Schweiß und die Sorgen, aber auch die Freude und die Dankbarkeit dem träge dahinströmenden Wasser anvertrauen.
An diesem Punkt der Reise wurde mir klar: Die Heimat lag nun endgültig hinter mir. Es gab keine Absicherung mehr, kein Zurück. Es blieb nur der Blick vorwärts, nach Westen, Tag für Tag, ohne recht zu wissen, was jeder dieser Tage mit sich bringen würde. Was ich in meinem Heimatkloster Einsiedeln jahrelang, oft gedankenlos, beim nächtlichen Gebet gesungen hatte, hier nun klang es echt und überzeugt: „Herr, auf dich vertraue ich. In deine Hände lege ich mein Leben.“
FLUCHPSALMEN UND KULINARISCHE KÖSTLICHKEITEN
10. Juli
War das eine gute Nacht! Erst die morgendlichen Sonnenstrahlen, die die Luft im Innern des Zeltes spürbar erwärmten, weckten mich auf. Ich hatte es aber keineswegs eilig. Alles tat ein bisschen weh, die Muskeln, die Knochen, die Hände, vor allem das Hinterteil. Als das Zelt endlich eingepackt war, ging es schon auf zehn Uhr zu.
Ich schwang mich auf mein Rad. Da ich in den Niederungen eines kleinen Flusstales gezeltet hatte, begann der Tag wieder mit einem Aufstieg. Nach nur zwei Kilometern lud eine kleine Kapelle zum Verweilen ein. Das ist eine willkommene Gelegenheit, um ein Morgengebet zu verrichten, sagte ich mir.
Es war aber eher Faulheit als Frömmigkeit, die mich da eintreten ließ. Beten konnte ich ja auch auf dem Fahrrad. Durch mein dreißigjähriges Klosterleben kannte ich manche der Psalmen auswendig.
Wenn mir aber gar nichts in den Sinn kommen wollte, dann dachte ich zurück an jenen russischen Bauern, dessen Wagen auf der Rückkehr vom Markt ein Rad verlor. Dem Armen blieb nichts anderes übrig, als im Wald zu übernachten. Nach seiner Gewohnheit legte er sich aber nie zur Ruhe, ohne seine Gebete zu verrichten. Doch hatte er diesmal kein Gebetbuch bei sich. Und auswendig konnte er kein einziges! Da sprach er zu sich selbst: „Was ich kann, ist nur das Alphabet. Also werde ich dieses dreimal nacheinander aufsagen. Und der Liebe Gott, der alles vermag, wird sich aus den Buchstaben schon selber ein Gebet formen!“ – Wahrlich, Gott hörte das, heißt es in der Geschichte, und er sprach zu seinen Engeln: „Heute ist kein schöneres Gebet in den Himmel gedrungen als das Gebet dieses einfachen Bauern.“ Ungefähr so gestaltete ich meine Andacht in der Kapelle. Aber bald darauf hieß es wieder aufbrechen.
Nach etwa einer Stunde Steigung war eine größere Umleitung signalisiert, und zwar dermaßen schlecht, dass ich über viele Kilometer in die falsche Richtung fuhr und wertvolle Zeit verlor. Nur mein geistlicher Stand verbot es mir, meinem Ärger über diese Schlamperei durch lautes Fluchen Luft zu verschaffen. Fluchpsalmen (solche gibt es) wären jetzt genau das Richtige gewesen, aber die hatte ich nicht auf Lager, da wir sie in Einsiedeln leider überspringen.
Da СКАЧАТЬ