Название: Animant Crumbs Staubchronik
Автор: Lin Rina
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783959913928
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»Winston!«, rief mein Onkel, als er den jungen Mann erblickte, und grinste breit. »Mein Freund, ich dachte, du wärst schon auf halbem Weg nach Glasgow.«
Auch der Angesprochene lächelte und trat vor, um meinem Onkel die Hand zu schütteln. »Erst morgen in der Früh, Alfred. Deshalb nehme ich auch die Unhöflichkeit in Kauf, dich um diese Stunde noch zu stören.«
»Ach wo«, wehrte Onkel Alfred ab, und dann schien ihm plötzlich wieder einzufallen, dass ich nach wie vor neben den beiden Männern an der Wand eingezwängt stand.
»Oh, natürlich«, begann mein Onkel und trat ein Stück zur Seite, damit ich mit meinem Rock mehr Platz zum Stehen hatte. »Ani, darf ich bekannt machen? Dieser junge Mann ist Winston Boyle, der neue Rechtsbeistand meiner Abteilung«, stellte er mir Mr Boyle vor, der höflich den Kopf neigte, ein verschmitztes Lächeln im Mundwinkel. »Winston, das ist meine Nichte Animant Crumb. Ich habe sie nach London mitgebracht, damit sie sich als Bibliothekarsassistentin versuchen kann.«
Mr Boyle fiel bei diesen Worten das Lächeln aus dem Gesicht und er zog überrascht die Augenbrauen hoch. »Wie? In dieser Bibliothek? Bei Mr Reed?«, wollte er entgeistert wissen und so langsam war ich bereit, mir doch ein wenig Sorgen zu machen.
»Wie fürchterlich muss dieser Mann denn sein, dass alle so entsetzt reagieren, wenn das Thema auf ihn kommt?«, fragte ich in einem leichten Ton und lächelte sanft, um meine Gefühle nicht zu offenbaren. Wenn ich die ganze Sache nicht mit Humor nahm, würde ich am Ende vielleicht wirklich Angst bekommen und ich war fest entschlossen, mich nicht so leicht einschüchtern zu lassen. Mutter würde es nur zu gern sehen, wie ich alles hinschmiss und nach Hause zurückgekrochen kam. Aber diesen Gefallen würde ich ihr garantiert nicht tun.
»Er ist nicht fürchterlich«, beeilte Mr Boyle mich zu beruhigen und als er mein Lächeln sah, kehrte auch sein eigenes zurück. »Nur … kompliziert.«
Ich hob eine Augenbraue, legte den Kopf leicht schräg und beschloss, die Gelegenheit zu nutzen, den gut aussehenden Mr Boyle auszuquetschen. Wenn schon niemand anderes bereit war, meine Fragen zu beantworten, dann musste eben er herhalten.
»Setzt euch doch erst mal und esst«, unterbrach Tante Lillian meine Gedanken mit weicher Stimme und streckte die Hand nach mir aus, damit ich mich auf ihre Seite des Tisches setzte. »Dabei könnt ihr immer noch reden.«
Ich lächelte ihr zu, obwohl ich innerlich seufzte, raffte meine Röcke und manövrierte mich zwischen Onkel Alfred und Mr Boyle hindurch, die mir bereitwillig den Weg frei machten.
Meine Mutter hätte mich wohl niemals unterbrochen, wenn ich gerade mit einem netten jungen Mann geplaudert hätte. Aber so war das Leben nun mal, man konnte an jeder Situation etwas beanstanden.
Wir setzten uns, Onkel Alfred sprach das Tischgebet und eine beleibte Frau mit Spitzenhäubchen trug eine Terrine mit dickem Eintopf herein, aus der sie uns einem nach dem anderen ausschöpfte.
Ich hatte gerade den Löffel aufgenommen, da richtete ich das Wort auch schon wieder an Mr Boyle. »Mr Boyle«, sagte ich mit leiser Stimme, hoch erhobenem Kopf, das Kinn hielt ich jedoch ein wenig gesenkt, genau so, wie meine Mutter mir immer einredete, wie man mit jungen Männern zu reden hätte. »Geh ich recht in der Annahme, dass Sie diesen Mr Reed persönlich kennen?«, fragte ich sehr direkt und Mr Boyle nickte, während er kaute.
»Das tun Sie, Miss Crumb«, erwiderte er charmant und seine ungewöhnlichen Lippen verzogen sich zu einem leichten Schmunzeln. »Wenn man so viel Zeit wie ich in dieser Bibliothek zugebracht hat, kann man gar nicht anders, als diesem Herrn persönlich zu begegnen.«
Ich rutschte mit dem Po ein Stück weiter auf die Stuhlkante, um aufmerksamer zuzuhören und mein Interesse an diesem Thema zu unterstreichen. »Mein Onkel hat mich dazu überredet, mein Glück in der arbeitenden Schicht zu versuchen, bisher allerdings alles verschwiegen, was mir in diesem Bezug wichtig erscheint. Sie werden mir wohl verzeihen müssen, dass ich meine Neugierde so offen zur Schau trage«, erzählte ich und Mr Boyle lachte, ein Lachen, das mich anstecke.
Er stützte die Unterarme auf der Tischkante ab und beugte sich mir ebenfalls entgegen. »Ich werde Ihnen mit Freuden alle Fragen beantworten, die ich imstande bin aufzuklären«, versicherte er mir verschwörerisch und hob dann den Blick zu Onkel Alfred, als wäre ihm eingefallen, dass es sich nicht gehörte, Versprechungen in Aussicht zu stellen, die man vielleicht nicht einhalten konnte. »Wenn es Ihrem Onkel denn genehm ist«, fügte er schnell hinzu und seine Stimme bekam einen nüchternen Ton.
Onkel Alfred seufzte laut und schob sich noch einen Löffel voll Eintopf in den Mund, was seine Antwort verzögerte und mich noch mehr auf die Folter spannte. »Redet nur«, sagte er schließlich schroff. »Soll mir recht sein. Dann muss ich schon nicht über diesen Mann sprechen. Das ist nicht gut für mein Herz, wisst ihr«, behauptete er und ich konnte ihm nicht so recht glauben, weil Tante Lillian in diesem Moment ebenfalls zu grinsen anfing und sich nur mühsam das Lachen verkneifen konnte.
Doch es konnte mir ja auch egal sein, welche Gründe Onkel Alfred wirklich hatte, solange er mir erlaubte, meine Neugierde anderweitig zu stillen.
Mr Boyles Honigaugen wandten sich erwartungsvoll an mich und mir fiel es schwer, auf die Schnelle bei all den vielen Fragen zu entscheiden, welche ich als Erstes stellen wollte.
»Mein Onkel deutete an, dass sich kein Assistent für diesen Mr Reed finden lasse. Woran kann das Ihrer Meinung nach liegen?«, begann ich klein, erinnerte mich selbst daran, dass ich ja mal hungrig gewesen war, und tauchte meinen Löffel in den heißen Eintopf, der nach Kartoffeln, Hühnchen und diversen Gewürzen duftete.
»Puh, das ist wohl auch schon der Kern der Sache«, meinte Mr Boyle und ließ seinen Löffel auf halbem Weg in der Luft verweilen, während er die Stirn krauszog, um seine Gedanken anzustrengen. »Ich würde behaupten, es liegt an den Erwartungen, die er an die Leute stellt und die niemand erfüllen kann.«
»Und die wären?«, schob ich gleich hinterher, als Mr Boyle sich den Löffel zum Mund führte.
»Er nimmt sich nicht die Zeit, die Leute richtig einzulernen. Er hat gern seine Ruhe, verschwindet manchmal am Nachmittag einfach, ohne zu sagen wohin, und erwartet, dass man mit den gestellten Aufgaben fertig wird, ohne von ihm eine Anleitung zu bekommen. Ich würde behaupten, er ist ein schlechter Lehrer, der aber trotzdem Perfektion als Ergebnis erwartet«, führte er aus und da fiel ihm noch etwas ein. »Oh!«, machte er und sein Mund verzog sich zu einem kleinen Lächeln. »Und er schätzt es gar nicht, wenn man seine Arbeit nicht ernst nimmt. Ein Mensch, der Vergnügen der Arbeit voranstellt, hat bei ihm nicht die geringste Chance.«
Das waren eine Menge Eigenschaften, die auf einen sehr verschrobenen, steifen Mann hinwiesen, mit dem ich meine liebe Mühe haben würde. Falls ich die Gelegenheit bekam, lang genug zu bleiben, um mich überhaupt darauf einzulassen.
So wie es bei Mr Boyle klang, würde ich in die Bibliothek hineinkommen, einen Fehler machen und schon wieder rausgeworfen werden. Ich hatte noch nie in einer Bibliothek gearbeitet.
Was dachte ich da? Ich hatte überhaupt noch nie gearbeitet! Ich hatte keine Ausbildung, kein Literaturstudium, keinerlei Erfahrungen als Assistent eines Bibliothekars.
Aber ich hatte Stärken, die von Vorteil sein würden. Ich kannte mich in Bibliotheken aus. Zwar nicht speziell in dieser, aber ich hatte schon viele gesehen und das System war immer ähnlich. Ich konnte schnell СКАЧАТЬ