Название: Gorbatschow
Автор: Ignaz Lozo
Издательство: Автор
Жанр: Историческая литература
isbn: 9783806242119
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Ich sagte zu Gorbatschow, es gehe jetzt nicht nur um das Schicksal der DDR und des Warschauer Paktes, sondern auch um das unseres Landes. Wenn das alles so kommt, verlieren wir unsere strategischen Positionen und verlieren das, was im Großen Vaterländischen Krieg erkämpft wurde. Er hörte mir zu, unterbrach mich nicht und sagte zum Schluss: „Ich werde alles in meinen Kräften Stehende tun. Aber ich glaube, der Zug ist schon abgefahren.“15
Am nächsten Morgen – es war Montag, der 16. Juli 1990 – erschienen Gorbatschow und Kohl beide in Strickjacken, was dem legendären Treffen seinen Namen gab. Die deutsche Seite war mit zehn Männern vertreten: Kohl, Genscher, Waigel, Regierungssprecher Klein, Kanzler-Berater Teltschik, Botschafter Blech, Staatsminister im Außenministerium Dieter Kastrup, Ministerialdirektor im Bundesfinanzministerium Gert Haller, Kohls Büroleiter Walter Neuer und Dolmetscher Andreas Weiß. Auf sowjetischer Seite waren es sieben: Gorbatschow, Außenminister Eduard Schewardnadse, Finanzexperte und Vize-Regierungschef Stjepan Sitarjan, Europa-Abteilungsleiter im Außenministerium Juli Kwizinski, Botschafter in Bonn Wladislaw Terechow, Gorbatschows Pressesprecher Arkadi Maslennikow und Dolmetscher Iwan Kurpakow.
Kohl bringt zunächst den schon beim Gespräch in Moskau in Aussicht gestellten „Großen Vertrag“ ins Spiel, der eine umfassende, langfristige und vor allem wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik vorsieht. In Archys herrscht insofern eine wechselseitige Abhängigkeit, als sich die Staatsmänner gegenseitig zum Erfolg verhelfen könnten. Gorbatschow sieht die Chance, sich bei seinen entglittenen, ja außer Kontrolle geratenen Reformversuchen Luft zu verschaffen. Und Kohl will unbedingt die deutsche Einheit verwirklichen, einen politischen Lebenstraum vieler Deutscher, der auch ein Ende der Teilung Europas bedeuten würde.
Fast vier Stunden ringen sie miteinander, doch am Ende steht die volle Souveränität Gesamtdeutschlands als Ergebnis fest. Für den Abzug der sowjetischen Truppen von deutschem Boden vereinbaren sie einen Zeitraum von drei bis vier Jahren. Gorbatschow hatte ursprünglich einen Übergangszeitraum von fünf bis sieben Jahren gefordert, denn immerhin müssen mehr als eine halbe Million Soldaten, Offiziere und Angehörige in die Heimat zurückgebracht werden. Hinzu kommen die schweren Waffen und sonstiges militärisches Gerät. Beschlossene Sache ist jetzt auch die NATO-Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands, wobei auf dem Gebiet der DDR die Stationierung von NATO-Truppen tabu ist, solange die sowjetischen noch nicht abgezogen sind.
Die Bundeswehr wird – auch als Zeichen an die sowjetische Bevölkerung – deutlich verkleinert. Gorbatschow ist es wichtig, dass in das Dokument die Formulierung aufgenommen wird, Deutschland habe freie Militärbündniswahl, und dass das Wort NATO nicht erwähnt wird. Wäre Gorbatschow ein schwacher Staatslenker gewesen, hätte er dem Widerstand der Hardliner in der sowjetischen Politik nachgegeben. Doch er setzte um, was er für richtig hielt. Von seinen Kritikern im eigenen Land blieben allerdings ohnehin viele in Deckung, hielten sich mit Vorwürfen zurück, denn die deutsche Frage war angesichts der kolossalen innenpolitischen Probleme ein Randthema. Und auch die Weltpresse erfährt zunächst kein Wort von der historischen Einigung. Selbst, als sich die beiden Staatsmänner nach dem Ende ihrer Gespräche vor der Staatsdatscha zeigten, äußerten sie sich vor der kleinen Schar der Pressevertreter nicht inhaltlich. Für Gorbatschow jedoch wurde „Archys zu einem einzigartigen Symbol der deutschen Wiedervereinigung auf sowjetischem Boden. In jener wunderbaren Umgebung besiegelten wir die deutsche Einheit.“16
Vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkrieges mit vielen Millionen Opfern und unendlichem Leid – ziehen ihre Staatslenker jetzt nicht nur einen Schlussstrich unter die schmerzliche Vergangenheit, sondern rufen eine Zeit der Partnerschaft, der gegenseitigen Hilfe und des Friedens aus. Denn für die beiden Kriegskinder war, wie Helmut Kohl schrieb, „Friede nicht nur ein Wort, sondern ein existenzielles Grundbedürfnis.“17
Gorbatschow sucht nach dem Ende der offiziellen Verhandlungen zunächst die Nähe seiner Frau. Sie machen einen kurzen Spaziergang auf dem Gelände der Staatsdatscha. Er muss seiner Frau von den Ergebnissen berichtet haben, denn wenig später, als sie sich mit Hans-Dietrich Genscher unterhält, ist sie schon im Bilde. Die Rolle von Raissa Gorbatschowa ist in der Geschichte der Sowjetunion und nach ihrem Zerfall einmalig. Kein sowjetischer Kreml-Herr hat sich mit seiner Ehefrau in der Öffentlichkeit so bewusst als gleichberechtigtes Paar gezeigt; auch mit Raissas gelegentlich öffentlichem Widerspruch geht Gorbatschow gelassen um.
Wie den privaten Filmaufnahmen von Botschafter Blech zu entnehmen ist, macht Gorbatschow vor der Abreise noch einen zweiten Spaziergang mit Kohl – begleitet nur vom Dolmetscher. Raissa Gorbatschowa spricht währenddessen mit den Außenministern Hans-Dietrich Genscher, Eduard Schewardnadse und einem Dolmetscher. Die Rolle der „dekorativen“ Ehefrau ist ihre Sache nicht. Genscher erinnerte sich, dass sie schon am Vortag höchst politisch wurde: „Als wir zu dem bekannten Treffen am Fluss gingen, griff die Frau Gorbatschow plötzlich von hinten meine Hand und zog mich zurück und sagte: ,Wissen Sie, was mein Mann hier tut? Deutschland muss seine Verantwortung auch wahrnehmen, seine Zusagen auch einhalten.‘ Da habe ich gesagt: ‚Darauf können Sie sich verlassen.‘ – Das war die fürsorgende, politisch denkende Ehefrau.“18
Von Archys aus fliegen Gorbatschow und Kohl rund 45 Minuten Richtung Nordosten: Schelesnowodsk liegt nur zehn Kilometer vom Flughafen der Stadt Mineralnije Wody entfernt. Die beiden Orte sind bekannt für ihre Heilwässer und ziehen Kurgäste aus der gesamten Sowjetunion an. Im Lungensanatorium von Schelesnowodsk treten die Staatschefs endlich gemeinsam vor die Weltpresse. Die Teilung Deutschlands, wie sie auf der Jalta-Konferenz im Februar 1945 von US-Präsident Franklin Roosevelt, dem sowjetischen Diktator Josef Stalin und dem britischen Premier Winston Churchill de facto zementiert worden war, ist nun überwunden. Um den Schauplatz dieser historischen Verkündung vom 16. Juli 1990 einordnen zu können, muss man jedoch noch einmal zurückblicken. Schelesnowodsk war im August 1942 von der Wehrmacht besetzt und im Januar 1943 von Truppen der Transkaukasus-Front der Roten Armee zurückerobert worden. Gut 47 Jahre nach der Befreiung sind nun nicht zufällig hier die internationalen Fernsehkameras und Mikrofone auf Michail Gorbatschow gerichtet. Er, vor allem er, hat die Versöhnung mit den Deutschen und die Wiedervereinigung ihres Landes maßgeblich ermöglicht. Dies allein hätte schon für den Friedensnobelpreis gereicht, den er drei Monate später, am 15. Oktober 1990, zugesprochen bekommen wird.
Doch Gorbatschow lässt seinem Gast den Vortritt. Der Kreml-Chef leitet die Pressekonferenz mit den Worten ein: „Sie können auf interessante Nachrichten gefasst sein.“ Der Bundeskanzler trägt „mit Genugtuung“19, wie er sagt, in acht Punkten vor, worauf sich beide Seiten geeinigt haben. Darunter fallen die Tatsachen, dass das vereinigte Deutschland die Bundesrepublik, die DDR und Berlin umfassen, jedoch endgültig nicht mehr die ehemaligen deutschen Gebiete Ostpreußen, Schlesien und Pommern beanspruchen wird. Außerdem sollen mit dem Vollzug der Einheit die Rechte der vier Siegermächte USA, Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich erlöschen und Deutschland somit seine volle Souveränität zurückerhalten. Zur Bündnisfrage führt er wörtlich aus: „Das vereinte Deutschland kann in Ausübung seiner uneingeschränkten Souveränität frei und selbst entscheiden, ob und welchem Bündnis es angehören will. Ich habe als die Auffassung der Regierung der Bundesrepublik Deutschland erklärt, dass das geeinte Deutschland Mitglied des Atlantischen Bündnisses sein möchte; und ich bin sicher, dies entspricht auch der Ansicht der Regierung der DDR.“20
Dieser Satz legt sehr nahe, dass Kohl die am 18. März 1990 demokratisch gewählte DDR-Regierung vor seiner Reise in die Sowjetunion über die Verhandlungsinhalte nicht informierte. Auf jeden Fall steht fest, dass er die DDR-Regierung nicht sofort über die mit Gorbatschow erzielten Ergebnisse unterrichtete, obwohl es sich bei den Modalitäten für den Abzug der sowjetischen Truppen sowie den künftigen militärischen Status des Gebietes der DDR nicht nur um bundesrepublikanische СКАЧАТЬ