Название: Gehen, um zu bleiben
Автор: Klaus Muller
Издательство: Автор
Жанр: Биографии и Мемуары
isbn: 9783954623822
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Nun überlegte ich, was sie in meinen Notizzetteln und -heften gefunden hätten, das mich belasten könnte. Immerhin hatte ich darin Konzepte für Reiseanträge und Listen für die Nachrüstung meiner Jolle verzeichnet und in meinem aktuellen Taschenkalender mit Kürzeln meiner privaten Vorhaben in den nächsten Wochen und Monaten viel von meiner Planung preisgegeben. Und dort stand auch das Kürzel „Valdep“, das mich für die ersten Tage nach meiner Rückkehr nach Rostock an die Neuanlegung eines Valutadepots erinnern sollte. Valdep, was könnte das sein?
„Geht Sie nichts an!“ zu sagen, war nicht möglich, das hätte zur Verhaftung und zur Wohnungsdurchsuchung geführt. Einen klaren Gedanken zu fassen, war in meiner Situation ebenfalls schwer, ich suchte krampfhaft nach einer Erklärung, wenn der Vernehmer fragte: „Was bedeutet Valdep?“
In der Stasidienststelle Bad Schandau waren zwar die Fenster ebenfalls vergittert, doch konnte man durch die Glasscheiben die auf der linken Elbseite stehenden Wälder sehen. „Du schöner deutscher Wald“ oder Karl-Hermann Roehrichts dritter Band seiner Autobiographie „Waldsommerjahre“ kamen mir in den Sinn. „Valdep“ bedeutet „Waldepos“, ich schreibe an einem Waldepos. Das Waldepos mit W und nicht mit V geschrieben wird, kann ich leicht mit Schludrigkeit erklären, das war die Lösung. Welches Problem gab es in meinen Zetteln und Heften noch? Ich war noch in Gedanken, als ein hässlicher, unangenehmer Kerl hereingeführt wurde. Erst im Raum wurden ihm die Handschellen abgenommen. Der Bursche setzte sich neben mich an den Tisch und begann sofort über die schlechte Behandlung zu räsonieren, die ihm zuteilgeworden sein sollte. Er erzählte von seinem Plan, mit seiner Freundin über die Tschechei in den Westen abhauen zu wollen, aber man hätte sie erwischt. Seine Freundin sei schon beim Vernehmer und würde gewiss nun schon von dem gefickt. Mir würde das erst passieren, wenn ich im Knast wäre, denn dort gibt’s keine Weiber, dort würden die Knastologen solche Kerle ficken wie mich.
Der Kerl war vielleicht doch ein Knastbruder, er hatte an den Unterarmen primitive Tätowierungen und eine fürchterliche Aussprache im anhaltinischen Tonfall, plapperte und plapperte. Erst als er sagte, ich solle beim Verhör besser gestehen, denn beim Gericht würde es als gut angenommen, ohne Geständnis aber werde es teuer – „beim Gericht haben die nämlich Jahre wie Mist“ sagte er noch – da war mir klar, das ist ein Provokateur.
Wenn er ein professioneller Stasimann war, dann hatte er seine Rolle vorzüglich gespielt, wahrscheinlich war er aber ein echter Knastologe, den die Stasi nur für diesen Job angeworben hatte. Gegen 19 Uhr, draußen war es schon dunkel, brachte man einen abendlichen Knastimbiss (Wurstscheiben, Gummikäse, mit Margarine beschmierte Brotscheiben und einen Klecks Fleischsalat) auf je einem Plasteteller mit Plastelöffel herein. Der Posten bekam das Gleiche wie wir beiden „Gefangenen“. Ich rührte nichts davon an. Der Knastbruder, der inzwischen hastig losspachtelte, sagte zu mir: „Iss mal, wer weiß, wann du wieder so etwas Gutes bekommst! Solche herrliche Fleischwurst und den feinen Fleischsalat gibt’s nicht in jedem Knast.“ Ich schob ihm wortlos meinen Teller hin, den er sofort mit vertilgte.
Weiterhin wortlos verbrachte ich nun dort Stunden um Stunden, der Provokateur wurde auch ruhiger, da ich ihm von Anbeginn seines Hierseins an mit keinem einzigen Wort bedachte. Plötzlich sagte er zu dem Posten: „Ich muß mal pinkeln!“ Der Posten drückte auf einen Knopf, und es kam ein Grenzsoldat herein, der den Typ hinausführte. Der kam aber nie wieder zurück.
Die Stunden gingen weiter, nach Mitternacht holte man mich zum Verhör in einen Nebenraum. Ohne eine Anschuldigung begann die Fragerei. Name, Adresse, Geburtsdatum und -ort, wohin, wie lange und warum? Der Verhörende hatte nun meine Notizzettel vor sich und fragte tatsächlich nach einzelnen Personen aus meinem Notizbuch und nach Kürzeln aus meinem Taschenkalender, unter anderem auch nach „Valdep“. Das größte Interesse allerdings bereitete der Stasi mein Antrag auf Mitgliedschaft in der Liga für Völkerfreundschaft, Sektion „Italien“, und mein Adressbuch.
Der Vernehmer machte sich immer mal handschriftliche Notizen, kurz nach drei Uhr wurde ich, ohne ein Protokoll unterzeichnet oder eine Anschuldigung gehört zu haben, aus der Stasidienststelle entlassen. In nächtlicher Finsternis ging ich, froh, aus der Stasimangel entkommen zu sein, über die Elbbrücke zurück zum Bahnhof Bad Schandau, war etwa dreiviertel vier dort angekommen. Um 4.15 Uhr fuhr der erste Arbeiterzug elbabwärts in Richtung Dresden. In dieser halben Stunde Wartezeit auf dem kalten Bahnsteig war ich noch immer hellwach, vielleicht waren sie mir noch auf den Fersen. Pünktlich fuhr der Zug aus Schmilka ein, er war schon halbvoll, die Chemiefabriken bei Pirna begannen zeitig mit ihrer Frühschicht und dort wollten die in den Elbdörfern wohnenden Arbeitermassen hin. Noch vor sechs Uhr, wo auch in Dresden der Berufsverkehr begann, war ich auf dem Hauptbahnhof eingetroffen und fuhr mit der gerammelt vollen Straßenbahnlinie 11 hinauf auf den Weißen Hirsch, wo ich wohnte.
Nun musste das dicke Bündel Westgeld schnellstens aus dem Hause und professionell wieder unter die Erde. Ich steckte also sofort, als ich in der Wohnung war, das noch immer wasserdicht verpackte Valutadepot in die Jackentasche, ging sofort wieder aus dem Haus, tat nun so, als wolle ich im Parkhotel-Restaurant frühstücken, ging aber nicht die Bautzener Landstraße entlang, sondern nahm den Weg durch die Dresdener Heide. Diffuses Tageslicht gab mir die Sicherheit, nicht verfolgt zu werden, das nahm ich dann als Gelegenheit wahr, im Wurzelwerk einer großen Buche ein professionelles Depot anzulegen. Ich grub mit dem Taschenmesser und mit der freien Hand ein mehr als ellentiefes Loch, in das ich das Valutadepot vergrub. Ich hatte es mit einem markanten Zweig gekennzeichnet, so dass ich später die Unversehrtheit des Schatzes überprüfen konnte, ohne ihn erneut ausbuddeln zu müssen.
Kurz danach fuhr ich wieder nach Rostock, erfuhr dort vom Tod Leonid Iljitsch Breshnews und von den tödlichen Rüpeleien des DDR-Zolls gegen westdeutsche Reisende, die nach der Kanzlerschaft Helmut Kohls plötzlich zunahm, aus dem Westfernsehen. Viele der Opfer waren schlicht vor Angst tot umgefallen, als man sie aus den Interzonenzügen holte. Einer wurde mit dem Kopf an einen Heizkörper in der Zollbaracke geschleudert, was ihn vom Leben zum Tode brachte. Die bundesdeutschen Politiker nahmen das ohne größere Aufregung hin, wollten die durch den Nachrüstungsbeschluss verschärften Beziehungen zwischen Osten und Westen nicht weiter anheizen. Nur Franz Josef Strauß nannte die Mörder deutlich Mörder.
Mir war noch nicht klar, wie ich das Valutareisegeld in den Westen bekommen könnte, ich wollte es aber auf alle Fälle in Rostock haben. Ende November fuhr ich also wieder nach Dresden, grub das Depot aus und brachte es mit der Eisenbahn an die Ostseeküste.
Der nächste Fehler, den ich beging, war nicht so existenziell wie in Bad Schandau, er soll nun erzählt werden.
Am nächsten Tag fuhr ich gegen Mitternacht mit dem Škoda, der noch immer das Dresdner Kennzeichen hatte, nach Warnemünde, um das Valutadepot im Stolteraner Küstenwald professionell anzulegen.
Warnemünde war in den frühen 80er Jahren im Herbst und im Winter nachts ein totes Nest. In der Parkstraße, in der Nähe des Hotels „Haus Stoltera“, war nicht ein Parkplatz besetzt. Ich stellte also kurz nach Mitternacht den Škoda dort ab, wollte mich schon auf den vier Kilometer langen Weg zum Naturschutzgebiet Stoltera machen, als mich eine Polizeistreife anhielt. Personalausweis und Fahrzeugpapiere wollten sie sehen, dann die Frage: „Was machen Sie um diese Zeit in Warnemünde?“
Ich sagte, dass ich im Kurhaus eine Kollegin abholen wolle, die dort in der „Achtern Strombar“ arbeite. Das erschien logisch, sie ließen mich laufen und gingen weiter in Richtung Kirchplatz. Nun ging ich in Richtung Kurhaus zur Standpromenade hin, wo das Kurhaus liegt; ich hatte immerhin 4.000 DM in eingewachsten Scheinen am Körper, wollte also nicht nochmal mit den Bütteln des real existierenden Sozialismus zu tun haben.
Der Weg zum Stolteraer Wald war bald СКАЧАТЬ