Название: Krähenflüstern
Автор: Regine Kölpin
Издательство: Автор
Жанр: Триллеры
isbn: 9783839264447
isbn:
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte Thiemo. Er versuchte, sich auf den grauen Mann ihm gegenüber zu konzentrieren.
»KripoWilhelmshaven, Rothko, guten Tag.«
Thiemo setzte sich auf. Die Kripo hatte er noch nicht im Haus gehabt.
»Am Freitag ist bei Ihnen Elfriede Lambacher verstorben«, sagte der Mann. Thiemo fiel auf, dass er noch nie so kleine Augen gesehen hatte. Nicht, dass sie in irgendwelchen Fettpolstern verschwanden. Der Mann war eher hager, aber die Augen wirkten rund und winzig, viel zu eng zusammengestellt. »Schweinsaugen«, dachte Thiemo und bemühte sich, konzentriert auszusehen, was ihm aber nicht gelang. Er strich sich über den Kopf, gab sein Passwort ein und rief am PC die Patientendaten auf, um etwas Zeit zu gewinnen. Thiemo kannte die Bewohner meist nur flüchtig, da er nur noch für die Organisation und den Ablauf zuständig war. Aber bei Frau Lambacher war das anders. Sie hatte sich so oft über das Haus, das Personal oder sonstige Dinge beschwert, dass selbst er über diese Frau voll informiert war.
Thiemo überflog die Akte. »Ja, Elfriede Lambacher ist am Freitagabend in ihrem Zimmer aufgefunden worden. Sie saß reglos im Rollstuhl. Das Pflegepersonal hat alle notwendigen Maßnahmen eingeleitet, aber wir konnten nichts mehr für sie tun. Frau Lambacher verstarb an einem hypoglykämischen Schock, also Unterzuckerung. Alles dokumentiert und vom Hausarzt so abgezeichnet. Da sind wir sehr genau mit der Erfassung, wissen Sie.« Thiemo wies auf den Bildschirm. Es war alles in Ordnung. Gut, dass er konsequent auf korrekten Eintragungen beharrte, dafür hatte er extra ein digitales System eingeführt.
»Wir haben einen anonymen Hinweis bekommen, dass es kein natürlicher Tod war.«
»Frau Lambacher war Diabetikerin und eine undisziplinierte dazu«, sagte Thiemo. »Sie können die Einträge in den Akten verfolgen. Eigentlich hätte sie mit ihrer Krankheit selbstständig sein sollen, aber immer wieder kam es zu Entgleisungen, sowohl nach oben als auch nach unten. Frau Lambacher kontrollierte ihren Blutzucker selbst und hatte zwei Insulinpens mit Plan zur Verfügung. Nur pflegte sie sich nicht an die verordneten Einheiten zu halten, sondern spritzte so, wie es ihr passte. Vielleicht hat sie auch am Freitag wieder ihr Ding gemacht. Sie wusste immer alles besser! Fragen Sie ihren Sohn, der kann das bestätigen.«
Thiemo war zu müde, um sich jetzt mit dem Tod dieses alten Drachen herumzuärgern. Nicht nur von Frau Lambacher waren Klagen bei ihm eingegangen, nein, auch das Personal hatte sich ständig über sie beschwert. Diese Frau hatte stets nur das getan, was sie selbst für richtig hielt, und ihre Pflegerinnen gemaßregelt, wo sie nur konnte.
Der schweinsäugige Kommissar drehte den Bildschirm zu sich herum und studierte die Einträge. Er grunzte hin und wieder. Dann nickte er. »Sie sind aber modern mit Ihrer Digitalisierung.«
Thiemo wusste nicht, ob das ein Kompliment oder eine Kritik sein sollte, und schwieg. Der Kommissar las noch immer. Schließlich lehnte er sich zurück und sagte: »So weit stimmen Ihre Angaben. Ich denke, es war ein schlechter Scherz mit dem Anruf. Die Leute sind ja ganz irre wegen der Prozesse gegen die Todesschwestern und so.«
»Für mein Personal kann ich garantieren, Herr Rothko. Wir sind da sehr eigen.« Selbstgefällig lehnte Thiemo sich in seinem Sessel zurück. Sein Pflegeheim war sauber. Daran würde auch der Kommissar nicht rütteln können.
Er hoffte, der Mann würde seinen Besuch endlich beenden. Frau Lambacher war mit ihren siebzig Jahren zwar noch recht jung gewesen, aber sie hatte ja auch nicht gerade zur Verbesserung ihrer Situation beigetragen. Ihre amputierten Beine waren nun mal das Ergebnis eines seit Jahren schlecht eingestellten Diabetes. Da kam es, so traurig es war, eben vor, dass solch ein Mensch an einer Entgleisung starb.
Rothko griff nach einem herumliegenden Kugelschreiber und tippte mit dem Ende gegen sein Kinn. »Warum«, setzte er langsam an, »warum hat Ihr Personal eigentlich nicht rechtzeitig etwas gemerkt?«
Thiemo spannte unmerklich den Rücken an und holte tief Luft. Dabei bemühte er sich, gelassen zu wirken. Er griff ebenfalls nach einem Stift und klopfte ihn leicht auf die Schreibtischunterlage, als mache er eine Zigarre zum Anzünden klar. Er wollte Zeit gewinnen, denn das war genau die Frage, die er liebend gern vermieden hätte. Es war der einzige heikle Punkt, denn Frau Lambachers Unterzuckerung hätte vielleicht schneller entdeckt werden können.
Thiemos gewohntes Lächeln kämpfte sich unaufhaltsam durch die müden Gesichtszüge und seine Stimme klang ruhig und bestimmt, als er den Stift beiseite legte. »Die zuständige Schwester ist davon ausgegangen, dass der Sohn da war, wie jeden Nachmittag. Wir haben über den Türen Leuchten. Grün heißt, dass die Schwester im Zimmer ist, bei Rot ertönt eine Klingel. Bei Frau Lambacher war es so, dass sie auf dem Brennen der grünen Lampe bestand, wenn der Sohn zu Besuch war. Dann sollte keiner das Zimmer betreten, sie wollten nicht in ihrer Privatsphäre gestört werden. Und die Leuchte war den ganzen Nachmittag an.«
»Aber Herr Lambacher war gar nicht da, oder?«
»Nein. Aber er war sonst jeden Nachmittag hier. Wirklich jeden. Immer zur gleichen Zeit. Ein dummer Zufall, dass die Schwester ausgerechnet an diesem Tag vergessen hatte, das Licht auszumachen. Ein wirklich dummer Zufall.«
»Ein menschlicher Fehler, nicht ungewöhnlich«, sagte Rothko.
»Sie waren schon komisch, die beiden. Der Sohn und die Mutter, so – zusammen«, rutschte es Thiemo heraus. Er hatte das immer wieder bei den Personalgesprächen mitbekommen: Die Beziehung von Herrn Lambacher zu seiner Mutter hatte eindeutig etwas Pathologisches gehabt.
Der Kommissar reagierte nicht auf Thiemos Bemerkung, vielleicht hatte er sie einfach auch nur zu leise ausgesprochen. »Das wäre es erst mal. Ist eine unangenehme Geschichte. Wir melden uns!« Er drehte den Bildschirm in die Ausgangsposition zurück und stand auf. Thiemo hatte den Eindruck, dass auch der Kripobeamte sehr müde war, und was sollte man von zwei so müden Menschen an Hochleistung heute erwarten …
*
Hubert Lambacher hatte das Gefühl, dass seine Finger am Lenkrad festfroren. Er stand vor dem Eingang des pompösen Seniorenpflegezentrums Sanfte Wellen und konnte den Blick von keinem der Menschen lassen, die das Gebäude betraten oder verließen.
Einer von ihnen hatte seine Mutter auf dem Gewissen, einer von ihnen hatte sie getötet, er war ganz sicher. Von allein war sie bestimmt nicht gestorben.
Der Kommissar war kurz bei ihm gewesen, hatte ihn nach seiner Mutter gefragt, wegen der Zuckerkrankheit. Hubert war zu dem Zeitpunkt noch nicht ganz Herr seiner Sinne gewesen, zu sehr hatte ihn der Schmerz über den Verlust aus der Bahn gefegt. Er fühlte sich wie ein Blatt, das vom Baum gefallen war und nun willenlos vom Wind durch die Welt getragen wurde.
Drei Nächte hatte er nicht geschlafen. Zuerst war er unter dem Strom der Tränen erstickt und dann hatte er versucht, einen Sinn in dem Ganzen zu finden. Ein Mal, ein einziges Mal war er nicht bei seiner Mutter gewesen und schon passierte so etwas. Hubert fühlte sich entsetzlich schuldig, konnte die kalten Blicke seiner Mutter fühlen, wusste, was sie in ihren letzten Minuten gedacht hatte. Sie war böse gewesen, hätte ihn bestraft, wenn er das nächste Mal gekommen wäre.
Stockend hatte Hubert dem Kommissar von seiner Anbetung für sie und von ihrer Krankheit erzählt. Doch der Mann mit den kleinen, stechenden Augen hatte gar nicht richtig hingehört, war so schnell wieder weg gewesen, dass Hubert ihm in all seiner Trauer nichts von den zerstochenen Reifen gesagt hatte. Das war ihm erst später eingefallen, als er nicht mehr von den ständigen Weinkrämpfen geschüttelt wurde.
Hubert СКАЧАТЬ