Название: Die verlorene Insel
Автор: Nataliya Gumenyuk
Издательство: Автор
Жанр: Зарубежная публицистика
isbn: 9783838274997
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Hilfe die Militärangehörigen und ihre Familien nach dem „Referendum“ benötigen: „Wir sehen alles nur von unserer begrenzten Warte aus. Niemand traut sich, über Flucht zu reden, das wäre feige. Aber wir sitzen einfach herum und warten, da es keine Befehle gibt. Die größte Angst haben wir davor, dass in der Ukraine ein Krieg ausbricht. In den vergangenen drei Wochen haben wir uns moralisch und physisch an die Situation gewöhnt. Es gibt jetzt nicht viel zu helfen, es sei denn, das Militär würde auf das Festland verlegt.“
„Unterkunft, Geld, wenigstens irgendwas?“
„Stellt euch vor, die Leute lassen alles stehen und liegen, ihre Möbel, alles Mögliche. Gebe Gott, dass wir wenigstens einige Koffer packen können. Wo sollen wir nur hin – aufs freie Feld? Hier hat zumindest fast jeder ein Zimmer im Wohnheim, eine eigene Wohnung, oder die der Eltern. Und dort – nichts.“
Larissa macht eine lange Pause. Dann fährt sie fort: „Ich kann nicht behaupten, dass das ukrainische Volk uns nicht helfen würde. Wir werden aus allen möglichen Gegenden des Landes angerufen und moralisch unterstützt. Tablets haben wir auch erhalten, Internet haben wir. Die einzige spürbare Unterstützung kommt vom ukrainischen Volk. Wenn wir ermutigende Worte hören, etwa im Fernsehen… dann rühren sie uns zu Tränen. So leben wir. 99 Prozent der Militärangehörigen halten zu diesem Volk. Ob das auf die Regierung zutrifft, lässt sich schwer sagen. Aber für dieses Volk werden wir weiter einstehen.“
Major Leonid Lisowyj, der Nachbar der Familie Mamtschur, bringt sich in die Unterhaltung ein: „Was hier vor sich geht? Die russischen Truppen drängen uns an die Wand. De facto befinden wir uns jetzt auf fremdem Territorium. Seit dem Referendum sind wir für sie nicht mehr als bewaffnete Banditen, die ausgemerzt werden müssen. Das muss denen in Kyjiw klargemacht werden, aber die Leitungen sind gekappt. Ich denke nicht, dass es jetzt noch Sinn macht, Waffengewalt anzuwenden. Das wäre Brudermord. Wir haben jedoch keine Verbindung zum Verteidigungsministerium. Wenn wir doch nur potente Machthaber hätten, die hierher auf die Krim, nach Simferopol, kämen, um sich hinzusetzen und zu einer Einigung zu kommen. Aber so werden wir Tag für Tag weiter zurückgedrängt.“
Major Lisowyj hat eine Entscheidung getroffen. Gebürtig stammt er aus Winnyzja. Seine Eltern leben dort, vor kurzem hat er seine Frau dorthin geschickt. Eine Unterkunft auf der Krim hat er nicht erhalten: „Auf dem Dienstweg hat mir niemand etwas angeboten. Sobald ich in Winnyzja angekommen bin, vereinbare ich ein Treffen mit dem diensthabenden Offizier und bitte ihn, mich für ein weiteres Jahr zu verpflichten. Ich würde gerne. Kommt er zu dem Schluss, dass ich gebraucht werde – dann werde ich dienen. Falls nicht, schreibe ich einen Bericht und lasse mich vom Dienst suspendieren. Und was dann? Ich weiß es nicht. Das ist Sache der Machthaber.“
So dächten Lisowyj zufolge viele der Militärangehörigen, die nicht von der Krim kämen. Die Ortsansässigen hingegen, mit Familie, Eltern, Frau, die blieben hier.
Als wir aufbrechen, registriert mein estnischer Kollege die bescheidenen Lebensverhältnisse der ukrainischen Offiziere. Überall auf den Fluren stehen große, karierte Taschen; Anzeichen für die Abreisevorbereitungen der Familien.18
Nicht nur ihre Wohnungen und Familien hindern die Ortsansässigen an der Abreise. Wiktor Wasylowytsch, der Offizier außer Dienst, der uns zu diesem Stützpunkt und diesem Wohnheim gebracht hat, sagt, dass er die Halbinsel nicht so ohne weiteres verlassen könne. Es ist noch nicht so lange her, dass sein Sohn bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam. Und die Person, die den Unfall zu verantworten habe, sei noch nicht verurteilt worden; der Prozess dauere noch an: „Ich verstehe einfach nicht, wie das möglich ist, und ich kann nicht zulassen, dass die Akte einfach geschlossen wird“, erklärt er leise.
In der Innenstadt treffen wir uns mit einem anderen Angehörigen der ukrainischen Marine. Seine ganze Familie stammt aus Sewastopol. Roman mimt für uns den Tourguide und führt uns durch die Stadt. Er zeigt uns das Moskauer Haus und das russische Offizierskasino, das schon sehr lange auf der Krim ansässig ist. Dabei wiederholt er gebetsmühlenartig, wie lange Russland hier schon seine Vorherrschaft ins Felsgestein meißelt: „Sewastopol, die Krim wie auch das Baltikum sind Rückzugsorte für viele Soldaten im Ruhestand. Sie haben in Russland gedient und genießen hier ihre Rente. Und nun fordern sie ein besseres Leben. Sie sind einfach auf die russischen Rentenzahlungen angewiesen. Mit der Krim oder der Ukraine fühlen sie sich in keinster Weise verbunden, deshalb unterstützen sie die Vereinigung mit Russland. Das trifft auch auf diejenigen zu, die für Unternehmen arbeiten, die mit der Wartung der Schwarzmeerflotte betraut sind. Dann gibt es noch die ‚Berufsrussen‘ aus den prorussischen Organisationen. Die jungen Menschen sind in den Jahren nach der Unabhängigkeit auf der Krim aufgewachsen, haben an ukrainischen Hochschulen studiert, sind nach Europa gereist und haben das Leben in der Sowjetunion nicht miterlebt; viele waren noch nie in Russland. Doch im Gegensatz zu den Rentnern sind sie nicht sonderlich aktiv. Denn die, die haben keine einzige Wahl verpasst.“
Die Straßen sind fast menschenleer. Auf unserem Weg zum Treffen können wir die Silhouetten der „höflichen Menschen“ erahnen – bewaffneten Soldaten, die um die Häuserblöcke patrouillieren. Einerseits ist die Versuchung groß, weitere Aufnahmen von russischen Sicherheitskräften zu machen. Andererseits ist Vorsicht geboten: die Aussicht, sich mit einem in Kyjiw ausgestellten ukrainischen Pass und dem Reisepass eines estnischen Staatsbürgers ausweisen zu müssen, ist nicht sehr verlockend. Für alle Fälle suchen wir uns einen ruhigeren Ort. Wir sind die einzigen drei Gäste in der anscheinend einzigen Bar, die um diese Zeit im Stadtzentrum noch geöffnet hat. Ein ukrainischer Sender läuft im Fernsehen. Ich will wissen, ob sie auch andere Sender empfangen. Das Mädchen hinter der Theke sagt, dass ihre Eltern zwar alle Sender empfangen, ihnen aber keinen Glauben schenken würden: „Da zeigen sie Massen von Menschen auf der Flucht, aber Sie sehen doch, dass das nicht der Fall ist.“
„Das größte Problem für die ukrainischen Seestreitkräfte und die ukrainischen Bürger auf der Krim ist die Untätigkeit der Machthaber in Kyjiw. Drei Wochen lang musste das Militär ohne schriftliche Befehle auskommen. Es gab lediglich Anrufe aus dem Verteidigungsministerium und dem Generalstab. Es hieß, wir sollen auf unseren Posten bleiben, doch was zu tun sei, konnten sie uns nicht sagen“, erklärt Roman.
Seiner Ansicht nach müsse man entweder alle Truppen abziehen oder aber sich auf Bedingungen einigen, unter denen sie hierbleiben können. Doch dazu bliebe keine Zeit: „In den kommenden Tagen werden die übrigen Stützpunkte erobert. Ohne Beistand vom Festland werden sie sich nicht halten können. Der Vorsitzende des Ministerrats der Krim hat angekündigt, dass das gesamte Eigentum auf dem Territorium der Halbinsel verstaatlicht wird – und damit auch alles, was der Marine gehört. Sie werden also alles mitnehmen, Waffen, Militärtechnik, Schiffe, die Magazinbestände, einfach alles. Aktuell liegen in der Strilezka-Bucht einige Schiffe und U-Boote, hinzu kommen einige bemannte ukrainische Schiffe am südlichen Marinestützpunkt in Donuslaw. Wenn es wie von Aksjonow angekündigt dazu kommt, dass sie ebenfalls festgesetzt werden, bleibt uns nichts anderes übrig, als die Schiffe entweder preiszugeben, abzuziehen oder zu versenken. Die Leute handeln auf eigene Initiative, ohne klare Anweisungen aus Kyjiw. Das kann nicht lange gutgehen. In Nowooserne wurde bereits eine Garnison eingenommen. Mindestens die Hälfte aller Schiffe wurde seit der Unabhängigkeit in der Werft in Mykolajiw vom Stapel gelassen. Das alles setzt Kyjiw durch seine Unentschlossenheit aufs Spiel.“
Wir verabschieden uns und wollen aufbrechen. Den ganzen Abend lang redete Roman besonnen, führte Fakten an und legte Argumente dar. Doch plötzlich klingt seine Stimme verärgert, so als wäre das Wesentliche noch nicht zur Sprache gekommen: „Wie kann es sein, dass wir, eine Nation der Kosaken, uns kampflos ergeben haben? СКАЧАТЬ