Die verlorene Insel. Nataliya Gumenyuk
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Название: Die verlorene Insel

Автор: Nataliya Gumenyuk

Издательство: Автор

Жанр: Зарубежная публицистика

Серия:

isbn: 9783838274997

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СКАЧАТЬ zu Ihnen und ich habe eine Bitte. Wir wollen noch mit einer anderen Person sprechen, doch ihr Kind ist müde, und wir haben keinen guten Ort für unser Gespräch gefunden. Können wir vielleicht zu Ihnen kommen?“, bitte ich den mir im Grunde unbekannten jungen Mann, den mir ein Bekannter vermittelt hat. Jurij ist in der IT-Branche tätig. Von ihm will ich wissen, wie die unpolitische Jugend und die Unternehmer zu den Ereignissen auf der Krim stehen. Ich will möglichst unterschiedliche Menschen treffen, um zu verstehen, was die Menschen auf der Krim wirklich umtreibt.

      Nach einer Stunde Fahrt stehen wir endlich vor dem modernen Büro. Wir sind in Eile und müssen nun zwei Gespräche, die nicht unterschiedlicher sein könnten, irgendwie unter einen Hut bringen. In diesem Moment scheint es, als wären zwei gegensätzlichere Charaktere kaum vorstellbar: Hier die leidenschaftliche Lehrerin, die stundenlang über ihren Stolz auf ihre Schüler und deren Erfolge bei den Schewtschenko-Spracholympiaden reden kann – dort der russischsprachige IT-Spezialist, ruhig und sachlich; bemüht, sich aus der Politik herauszuhalten.

      Switlana wechselt in druckreifes Russisch: „Wenn ich jetzt Russisch sprechen und Mütterchen Russland als Heimat anerkennen würde, ich würde nirgendwo anecken und in der Masse aufgehen. Doch wenn ich meine Pflichten so gewissenhaft erfülle wie zuvor, sogar noch gewissenhafter, aber dabei Ukrainisch spreche, bringe ich mich und meine Familie in Gefahr. Wie kann man nur der Sprache wegen einen Krieg zwischen zwei Brüdervölkern lostreten? In den Familien hat dieser Krieg bereits begonnen; sie brechen auseinander. Heute im Bus haben sich die Leute gegenseitig zum Feiertag gratuliert. Ich ließ es darauf ankommen und fragte: ‚zu welchem Feiertag denn?‘ ‚Ja wie, wir sind doch seit heute Unabhängig!‘ Ich entgegnete: ‚Welche Unabhängigkeit?‘ – ‚Na, heute haben wir uns Russland angeschlossen.‘ Dabei zeigt ein Blick ins Wörterbuch, dass die Begriffe ‚Unabhängigkeit‘ und ‚Anschluss‘ unterschiedliche Bedeutungen haben. Doch dir steht nicht zu, diesen ‚Feiertag‘ zu verweigern. Und wenn wir für das Recht einstehen, dass Sewastopol ukrainisch bleibt, bringen sie uns einfach um…“ sie ringt um die richtigen Worte „…die schlachten uns einfach ab!“

      „Sie haben gerade das Wort ‚abschlachten‘ verwendet…“

      „Weil es genauso gesagt wurde! ‚Ihr Benderiwtsi gehört abgeschlachtet! Ihr Faschisten!‘ Was geht nur vor in den Köpfen der Menschen? Es zerreißt dir das Herz, wenn du solche Dinge hörst. Wir leben hier wie Geiseln, ohne zu wissen, wie wir uns verhalten sollen: reden oder schweigen. Viele haben ihre Gesinnung bereits gewechselt, manche sind geflohen, andere untergetaucht, wieder andere sind verstummt. Die Fernsehsender in Sewastopol, auf der Krim – wohin man auch schaut, überall verzerrte Informationen. Die Menschen fürchten sich davor, aufs Festland zu reisen: ‚In der Ukraine werdet ihr getötet, Faschisten haben dort die Macht ergriffen – bleibt besser auf der Krim!‘ Sowas wird ihnen eingetrichtert. Aber ich war dort, vom Faschismus keine Spur.“

      Ich kann Switlanas Wut nachvollziehen. Sie sucht das Gespräch mit Kollegen und ist bestrebt, Andersdenkende umzustimmen. Doch sie befürchtet, dass sie nichts ausrichten kann. Jurij hält sich bedeckt, daher will ich wissen, ob er keine Angst verspüre: „Wovor sollte ich Angst haben? Ich gebe nur wieder, was ohnehin in aller Munde ist. Wir schlagen uns mit gesperrten Bankkonten herum. Schon vor dem Referendum konnte man kein Geld mehr abheben. Ich fürchte, dass diejenigen, die hier an die Macht gekommen sind, die Krim einfach zur Plünderung freigeben. Sie werden sich wie kleine Fürsten aufführen und den Kurs von Janukowytsch fortsetzen. Sie schnappen sich seine Villen und bauen sich noch ein paar neue dazu.“

      ***

      Was bildest du dir ein, mein Schatz?

      Willst um den Finger wickeln?

      Die Mädchen woll‘n dich aber nicht,

      siehst aus wie ein Karnickel!

      Auf dem Basar war ich vor Kurzem,

      da zeigten sie ein Märchen.

      ‘ne Alte hat‘n Gaul geknutscht,

      Fedja hieß das Pferdchen.

      Russland und die Ukraine –

      oh dichter Beerenstrauch,

      der Grenzmann schützt die Heimat

      heuer vor der Heimat auch.

      Eine Frau mit einem angehefteten Georgsbändchen tanzt und singt dabei diese Zeilen. Ein Großväterchen mit Akkordeon sorgt für die musikalische Begleitung. Eine „spontane“ Feier findet hier statt. Auf dem Nachimow-Platz in Sewastopol hat sich eine Gruppe von etwa 30 Personen, darunter vorwiegend Rentner, eingefunden. Viele tragen Fahnen mit Portraits von Putin und Medwedjew.

      „Wir, die Sewastopoler, sind russische Menschen, heute sind wir das allerglücklichste Volk, und ich wünschte, alle Menschen auf dem gesamten Erdball wären so glücklich wie wir es heute sind. 23 Jahre lang hatten hier die Besatzer das Sagen, und nun kehren wir endlich heim. Wenn es von uns verlangt wird, stehen wir bereit, um Tag und Nacht zu marschieren. In dieser Stadt hat immer russische Ordnung geherrscht, Ukrainisch haben wir nie gelernt, und die Älteren konnten die Packungsbeilage ihrer

      Medikamente nicht lesen. Wie ist so etwas möglich? All die Jahre mussten wir ein Wörterbuch zur Hand nehmen, um uns nicht zu vergiften und an unserer Medizin zu sterben“, ereifert sich eine Frau fortgeschrittenen Alters in Matrosenshirt und Schiffchenmütze. Eben noch hatte sie mit einem Großväterchen in Kapitänsmütze getanzt.

      „Wir haben diesen Moment so lange herbeigesehnt. Alles geschieht zur rechten Zeit! Was willst du da machen?!“, ergänzt das Väterchen mit einem breiten Grinsen: „Begreif doch, Kindchen: Kyjiw wurde von Banditen erobert. Hätte man ihre Machenschaften sofort im Keim erstickt, wäre das alles hier nicht passiert. Wir alle hier wären nicht zu Russland gekommen. Während wir in Untätigkeit verharrt hätten, hätten sie uns die Nationalgarde auf den Hals gehetzt. Hätte, hätte – wenn wir nicht rechtzeitig gehandelt hätten.“