Название: Der Elternkompass
Автор: Nicola Schmidt
Издательство: Readbox publishing GmbH
Жанр: Секс и семейная психология
isbn: 9783833876608
isbn:
Aber Zeit haben wir nicht, die Zeit hat viel mehr uns. Das Zeitregime – vor 150 Jahren noch weitestgehend unbekannt – hat uns fest im Griff. Schlaf ist ein »betriebswirtschaftliches Problem«17 geworden, und das merken wir vor allem, wenn unsere Kinder noch sehr klein sind und sich so gar nicht an den vermeintlich einzig richtigen, industriell geprägten Acht-Stunden-Schlafrhythmus anpassen lassen. Damit werden die Kinder zum Problem, zum Sand im Getriebe des Kapitalismus. Sie werden reihenweise pathologisiert, sie müssen erzogen werden, und man unterzieht sie schon als Babys einer behavioristischen Prozedur, die »abgestufte Extinktion« heißt und bei der unerwünschtes Verhalten durch Ignorieren gelöscht werden soll – ursprünglich an Hunden getestet und entwickelt für Menschen mit Angststörungen. Es liegt an uns, ob wir das mitmachen – oder ob wir uns wehren und sagen: Wir finden andere Wege.
DIE WELT NEU DENKEN
Es ist eine verrückte Welt, in der wir leben. Wir sind uns einig, dass wir den CO₂-Ausstoß begrenzen müssen, und belohnen gleichzeitig Vielflieger mit exklusivem Zutritt zur Business-Lounge, Kofferanhängern und Statuskarten.18 Wir kompensieren unsere Defizite damit, dass wir uns »etwas gönnen«. Dazu gehört auch, dass »unterm Strich« nur wir zählen und wir uns von Kreuzfahrtanbietern versprechen lassen: »Hier ist das Lächeln zu Hause«, wenn bei uns zu Hause längst der Terror des »Beeil dich!« eingezogen ist. Wir pflegen eine Kultur, in der die Automobilindustrie immer neue Spritschlucker auf den Markt wirft, die wir dann in den Rang von Statussymbolen erheben – ein Anachronismus aus dem Zeitalter fossilen Irrsinns, den wir uns eigentlich längst nicht mehr leisten können.
Macht nichts – fangen wir neu an! Heute!
Lassen Sie uns mal ganz anders denken: Wie wäre es, wenn unsere Kinder keine emotionalen Defizite mehr mit Konsum kompensieren müssten? Wie wäre es, wenn unsere Kinder eine neue Kultur der Solidarität, sozialen Gerechtigkeit und eines sicheren Lebens für alle leben könnten? Wie wäre es, wenn sie von sich aus davon ausgingen, dass sie es wert sind, saubere Luft, saubere Böden, gesundes Essen zu haben – und dass sie das ohne Ängste mit allen Mitmenschen auf dem Planeten teilen könnten, weil genug für alle da ist?
Der Einzelne ist mit der Bewältigung von komplexen Problemlagen wie dem Klimaschutz überfordert. Aber es ist ja nicht unser Job, die Welt allein zu retten.
Wie wäre es, wenn unsere Kinder später mal Leute cool fänden, die eben keinen dicken Geländewagen durch die Stadt fahren, sondern die wenig arbeiten und viel Zeit haben, die sich ehrenamtlich engagieren, nie gestresst sind und lieber kurz vorbeikommen und klingeln, als zehn Kurznachrichten zu schicken?
Wie wäre es, wenn unsere Kinder es wieder cool fänden, wählen zu gehen, etwas zu bewegen, und wenn sie in einer Umgebung aufwüchsen, die es ihnen leicht macht, Autos zu teilen, Abfall zu vermeiden und Fahrrad zu fahren? Wenn wir aufhören könnten, ein schlechtes Gewissen zu haben, weil es uns die Welt leicht macht, das Richtige zu tun?19 Denn wir alle wollen das Richtige, doch »der Einzelne ist mit der Bewältigung von komplexen Problemlagen wie dem Klimaschutz überfordert«20 – und es ist auch nicht unser Job, die Welt allein zu retten. Aber etwas anderes können wir. Wir können die Generation heranziehen, für die das alles selbstverständlich ist. Denn deren Erziehung wird auch das nächste Jahrhundert prägen.
Wem das zu utopisch ist, der sei an eine sehr alte Erkenntnis aus der Soziologie erinnert, nämlich dass Psychogenese und Soziogenese zwei Seiten der gleichen Medaille sind. Psychogenese beschreibt, wie menschliches Verhalten, Affekte und Empfindungen entstehen und sich verändern. Unsere Psychogenese sah der deutsche Soziologe Norbert Elias als einen Grundpfeiler unserer Zivilisation21 – wie wir uns verhalten, was wir fühlen und wie wir reagieren, macht aus, ob wir in einer Gesellschaft voller Solidarität oder Egoismus, Rechtsstaatlichkeit oder Willkür, Nachhaltigkeit oder Wachstum leben. Elias sagte, die Gesellschaftsform, in die wir hineingeboren seien, präge unsere Psyche. Aber es gilt auch andersherum: Mit unserer Psyche prägen wir die Gesellschaft, in der wir leben! Wir wirken also auf sie zurück – wir, unsere Kinder und unsere Kindeskinder. Wenn wir eine neue Kultur erschaffen wollen, dann ist es klug, in den kleinen Seelen damit anzufangen.
Die Erziehung unserer Kinder wird die Gesellschaft unseres Jahrhunderts prägen.
Das Gleiche gilt übrigens für Infrastrukturen: Wie wir leben, wohnen, arbeiten, uns ernähren und unsere Freizeit verbringen, prägt nicht nur die Infrastruktur, die wir dafür aufbauen (Straßen, Flughäfen, Rad- und Wasserwege). Die Infrastrukturen prägen auch uns, sie werden sozusagen zu »mentalen Infrastrukturen«, zu inneren Vorstellungen davon, wie die Welt zu sein hat.22 Das macht es einerseits so schwer, Infrastrukturen (zum Beispiel die heute völlig auf den Autoverkehr ausgerichteten Städte) zu verändern, gleichzeitig werden diese Gemeinschaftseinrichtungen sich sofort verändern, wenn wir neue innere Bilder erschaffen.
Und wo könnten wir diese Bilder besser erschaffen als in der Erziehung unserer Kinder? Also schauen wir uns die Bilder doch noch mal an, mit denen wir bisher gearbeitet haben, und holen uns dann neue Perspektiven.
WAS IST DER RICHTIGE WEG? UNSER NORDSTERN
Wussten Sie schon, dass es Neugeborene gibt, die bereits krabbeln? Dass manche Säuglinge nach nur wenigen Monaten laufen? Und zahlreiche Babys niemals Windeln tragen?
Ebenso wie viele von uns sich heute keine Welt mehr ohne Autos, Braunkohlekraftwerke und Wachstum vorzustellen vermögen, können wir uns oft gar nicht ausmalen, was bei Babys und Kleinkindern alles möglich ist. Denn wie wir erziehen, hat viel mit unserem Weltbild zu tun.
Ist der Mensch gut oder böse?
Alle Erziehung beginnt mit der Frage, ob der Mensch an sich gut oder böse ist. Viele christliche Völker glaubten traditionellerweise, wir würden »in Sünde geboren« und bräuchten Eltern, die uns den »Versuchungen des Teufels« mit Strenge und zur Not auch Gewalt entziehen. Schon Neugeborene und Kleinkinder müssten hier früh abgehärtet werden und lernen, sich zu fügen und gottesfürchtig zu sein.
Im traditionellen Bali gilt das genaue Gegenteil: Hier werden Babys als kleine Götter oder zumindest als Reinkarnationen der Ahnen verehrt. Dementsprechend sollen Neugeborene nach balinesischen Regeln in den ersten Wochen ihres Lebens zum Beispiel auf keinen Fall den – unreinen – Boden berühren. Einen Säugling abzulegen oder gar allein zu lassen wäre völlig undenkbar. Tja, was ist ein Baby nun: Gott oder Teufel? Sollen wir sofort reagieren oder es warten lassen? Wenn wir die Kulturen fragen, bekommen wir völlig unterschiedliche Antworten.
Welches Verhalten der Kinder wird belohnt?
Wir verstärken Verhalten, indem wir darauf reagieren, also lautet eine wichtige Frage: Worauf reagieren wir? Deutsche Mütter antworten eher auf positive Signale ihrer Babys, wenn die Babys lachen, glucksen oder »kieksen«. Beim Volk der Kisii in Westkenia beobachteten Anthropologen, dass sich Mütter von einem laut lachenden oder wild gestikulierenden Baby eher abwenden. Warum? Weil sie keine individualistischen oder extravertierten Kinder erziehen wollen – genau das Gegenteil dessen, was deutsche СКАЧАТЬ