Название: Der Elternkompass
Автор: Nicola Schmidt
Издательство: Readbox publishing GmbH
Жанр: Секс и семейная психология
isbn: 9783833876608
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Doch warum hatten es diese Forschungsarbeiten nie in den »Mainstream« geschafft? Erstens schreien Säuglinge mehr, wenn man sie mehr schreien lässt – und kränker werden sie dadurch auch. Und zweitens war das Märchen von der »Alles-ist-möglich«-Lüge,2 das mir sagte, ich könnte alles haben – Kinder, Karriere und eine großartige Beziehung –, genau das: ein Märchen. Alle ethnologischen, anthropologischen, pädagogischen und medizinischen Befunde zeigten mir: Nein, es war nie einfach, Kinder großzuziehen, es wird nie einfach sein, und wir können immer nur unser Bestes geben.
Ich hatte sicher mein Bestes gegeben. Doch auch für mich war es ein Schock, als mir klar wurde, dass ich trotz meiner ablehnenden Haltung den unsinnigsten Empfehlungen gegenüber (»Schreien stärkt die Lunge«, »Betreuung ab zwölf Wochen« und »Immer schön den Teller leer essen!«) schon in den ersten zwei Jahren mit meinem Kind gravierende Fehler gemacht hatte, einfach weil ich so vieles nicht wusste. Ich hatte offenbar eine Schwangerschaftsdepression gehabt, die niemand – auch nicht meine Hebamme – erkannt, geschweige denn behandelt hatte. Dass junge Schwangere nächtelang weinen, ist ja normal, da reißt man sich einfach mal zusammen, oder? Ich war dem Weinen meines Säuglings hilflos ausgeliefert gewesen, und statt ihn mit ruhigem Atem zu koregulieren (zu beruhigen), wie es nachweislich hilfreich ist, hatte ich Stunden hektisch wippend auf dem Pezzi-Ball verbracht und dabei den Stresshormonpegel eines Hochleistungssportlers auf mein Kind übertragen.
Aber warum hatte mir das niemand vorher gesagt?
Mir wurde klar: Ich wollte weg von Tradition und Glauben, von Ammenmärchen und Unwissenheit hin zu Fakten – am besten zu doppelblind randomisiert ermittelten Tatsachen, also zu Ergebnissen von Studien, bei denen weder die Versuchsleiter noch die Studienteilnehmer Kenntnis über ihre jeweilige Gruppenzugehörigkeit (Kontroll- oder Experimentalgruppe) hatten.
Sprechen wir deshalb in diesem Buch von der »Randomisierung der Erziehungskunst«. Wir schauen uns an, was man belegen kann, und lassen alles links liegen, was zwar »Common Sense« ist, sich aber nicht beweisen lässt.
WORAN ERKENNE ICH EINE SERIÖSE STUDIE?
»Trau keiner Studie, die du nicht selbst gefälscht hast« – das hören wir oft, und es stimmt: Jedes Experiment, jede Studie sollten wir kritisch ansehen. Denn, um es mit dem römischen Philosophen Seneca (ca. 1–66 n. Chr.) zu sagen: »Es ist gleich falsch, allen oder keinem zu trauen.« Aber es gibt durchaus verlässliche Kriterien, die uns helfen, Ergebnisse richtig einzuschätzen.
Was wir in vielen Büchern, Blogbeiträgen, Interviews und so fort lesen, ist wie gesagt vor allem Ansichtssache. Daher finden wir bei einer einfachen Suche im Internet auch immer vermeintliche »Belege« für alles Mögliche, aber bei näherem Hinschauen entpuppen sich diese Texte als reine Meinungen. Das trifft auch auf viele Erziehungsratgeber zu, in denen jemand zu Papier gebracht hat, was er oder sie »meint«, es sei richtig für unsere Kinder. Hier gilt es, besonders vorsichtig zu sein: Was für mein Kind funktioniert, muss längst nicht für alle gelten – und umgekehrt.
Der aktuelle »Goldstandard« unter den Interventionsstudien sind die randomisierten kontrollierten Studien.
Die erste Sorte von »echten Studien« sind Beobachtungsstudien (deskriptive Studien). Sie stellen zum Beispiel fest, dass während des Beginns der Corona-Epidemie im Jahr 2020 deutlich weniger Frühgeburten auf die Welt kommen als vorher,3 regen die Diskussion an, sagen aber noch nichts über die Ursachen aus. Oft sind sie ein interessanter Ansatzpunkt, der jetzt überprüft werden kann, aber genau so oft muss man die Thesen verwerfen – das gehört zur Wissenschaft dazu. Ich benutze Beobachtungsstudien, um einen Denkanstoß zu bekommen, über den Tellerrand zu schauen oder um kleine Fallbeispiele zu nennen. Andere Beobachtungsstudien fragen schon nach der Ursache. Sie vergleichen Gruppen von Menschen miteinander (beispielsweise Schwangere, die Folsäure genommen haben, und solche, die sie nicht genommen haben) oder befragen Leute einmal oder mehrmals zu bestimmten Themen (Querschnitts- und Längsschnittstudien).
Die zweite Sorte von »echten Studien« sind die Interventionsstudien. Der aktuelle »Goldstandard« besonders für Medikamente oder seltene Krankheiten sind die randomisierten kontrollierten Studien (randomized controlled trial oder RCT). Hier teilen Forscher eine Gruppe per Zufall in zwei Hälften und vergleichen sie dann nach einer sogenannten »Intervention« (das kann ein Medikament sein, ein Training oder dergleichen). Wenn es etwa um die Wirksamkeit eines Empathietrainings geht, würde man beobachten, wie zum Beispiel die Gruppe mit Empathietraining (die Interventionsgruppe) und die zweite Gruppe ohne Training (oder beispielsweise mit Yoga statt des Empathietrainings) am Ende in einem Test abschneidet. So wollen Forscher feststellen, wie das Medikament oder das Training wirkt.
Dieses Beispiel zeigt aber auch schon, dass es oft schwer ist, so etwas im Familienkontext durchzuführen: Man kann (werdende) Mütter nicht willkürlich einer Still- oder einer Nichtstillgruppe zuordnen, da das ihre persönliche Entscheidung bleiben muss. In solchen Fällen können Forscher also nur rückblickend versuchen herauszufinden, was beispielsweise die stillenden von den nichtstillenden Müttern unterscheidet. Dabei versuchen sie oft, mathematisch andere Faktoren herauszurechnen, zum Beispiel den Einfluss von Bildungsgrad oder Alter.
Wenn die Kinder größer sind, geht es wieder besser: Man kann zum Beispiel problemlos die eine Schulklasse Hausaufgaben machen lassen und die andere nicht und dann die Testergebnisse vergleichen (die Ergebnisse sind erstaunlich – ich berichte weiter hinten im Buch davon). Dennoch sollten wir uns hier nicht blenden lassen: Forscher haben in einer groß angelegten Übersichtsstudie 2014 festgestellt, dass gut gemachte Beobachtungsstudien im Vergleich zu randomisierten kontrollierten Studien in der Regel gut abschneiden und keinen signifikanten Unterschied aufweisen.4
Und das waren nicht irgendwelche Forscher, sondern die renommierte Cochrane Collaboration, ein Zusammenschluss aus Wissenschaftlern, Ärzten, Fachleuten und Patienten, die sich mit der Vorgehensweise von klinischen Studien beschäftigt und die evidenzbasierte Medizin mitentwickelt haben, die danach fragt, was nachweislich wirklich hilft (lat. evidens [offenkundig, klar ersichtlich, überzeugend]).
In diesem Buch werde ich einzelne Studien immer wieder als Beispiele heranziehen, aber hauptsächlich interessiere ich mich für Reviews, also Übersichtsarbeiten. In einem Review sammeln Wissenschaftler alle Studien, die sie zu einem Thema finden können, sortieren sie in »brauchbar« oder »nicht brauchbar« und analysieren dann die Ergebnisse. Das hat den Vorteil, dass viele Studien von unterschiedlichen Kollegen einfließen, die unter Umständen auch unterschiedliche Meinungen haben und zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. In solchen Übersichten werden in der Regel außerdem nur Studien berücksichtigt, die durch das sogenannte »Peer-Review-Verfahren« geprüft wurden: Alle großen wissenschaftlichen Zeitschriften leisten sich den Luxus, Studien durch unabhängige Gutachter*innen aus dem gleichen Fachgebiet noch einmal gegenlesen zu lassen: Lohnt es sich, das zu veröffentlichen? Ist das belastbar? Auch dieses Verfahren ist nicht perfekt, und auch diesen Gutachter*innen geht mal etwas durch die Lappen, aber das Peer-Review-Verfahren verbessert die Qualität von Publikationen deutlich.
Auch seriöse Studien sollten mit gesundem Menschenverstand rezipiert werden. Wichtig sind vor allem die Fragen nach dem Aufbau, der Klarheit der Ergebnisse und dem Auftraggeber beziehungsweise Sponsor.
Wir sollten also immer fragen: Wer hat die Studie in Auftrag gegeben oder finanziert? Wie ist die Studie aufgebaut, und welche Frage stellt sie überhaupt. (Wie definiert man ein Schlafproblem?) Wie groß ist die Stichprobe? Gibt es eine Kontrollgruppe? Und nicht zuletzt: Wie klar oder vage sind die Ergebnisse?
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