Название: Der Elternkompass
Автор: Nicola Schmidt
Издательство: Readbox publishing GmbH
Жанр: Секс и семейная психология
isbn: 9783833876608
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Das Wehenhormon Oxytocin wird auch »scheues« Hormon genannt und leicht von Stresshormonen verdrängt. Das heißt, dass alles, was eine Frau unter Druck setzt, die Geburt stören, verzögern oder unterbrechen kann, auch ein Personalwechsel, unfreundliche Menschen, sogar zu helles Licht. Man könnte sagen: Das Kind sollte so herauskommen, wie es, hoffentlich, hineingekommen ist – in einer angenehmen, vertrauten, privaten Atmosphäre. Doch die Wirklichkeit sieht leider oft anders aus.
Der Hebammenverband hat seine Mitglieder befragt, wie die Arbeitssituation von Hebammen in deutschen Kliniken aussieht, und kommt zu dem Ergebnis: »Kaum noch eine Hebamme hat Zeit, eine Frau während der gesamten Geburt ungestört zu betreuen. Die Hälfte der Befragten betreut häufig drei Frauen, weitere zwanzig Prozent sogar vier und mehr Frauen parallel.«62 Nur jede fünfte Hebamme gibt an, Gebärende optimal betreuen zu können. Optimal bedeutet vor allem, emotionale, psychische und soziale Aspekte in den Vordergrund zu stellen und mit so wenig Technik wie möglich zu arbeiten.
Die WHO empfiehlt demgemäß nach Prüfung der Evidenzen keine routinemäßigen Einläufe, Rasuren oder Dammschnitte. Alle Frauen, auch die mit einer schmerzstillenden Periduralanästhesie (PDA, Betäubung durch Einbringung eines Lokalanästhetikums in den Periduralraum der Wirbelsäule [Spaltraum im Bereich der Rückenmarkshäute beziehungsweise des Spinalkanals]), sollten sich frei bewegen können und aufrecht gebären, das Gebären auf dem Rücken liegend wird ausdrücklich nicht empfohlen, ebenso kein Herausdrücken des Babys, indem man »auf den Bauch presst«. Gebärende Frauen müssen essen und trinken können, sollen respektvoll behandelt werden und von einem Menschen ihrer Wahl unterstützt werden. Gesunde Babys sollen nach der Geburt weder sofort abgenabelt noch von der Mutter getrennt oder gebadet, sondern Haut an Haut zwischen die Brüste der Mutter gelegt werden und möglichst bald Gelegenheit zum Stillen erhalten.
Optimale Betreuung unter der Geburt heißt vor allem, emotionale, psychische und soziale Aspekte in den Vordergrund zu stellen und mit so wenig Technik wie möglich zu arbeiten.
Aber wo kann ich so mein Kind bekommen? Es ist Aufgabe der Eltern, einen Geburtsort zu finden, der zu ihren Bedürfnissen passt und ihnen einen stabilen Start ins Familienleben ermöglicht. Denn dieser Start wird lange nachwirken.
WO KOMMT DAS KIND ZUR WELT?
Wir kennen den Disput zwischen Müttern, die ihre Kinder zu Hause bekommen, und solchen, die das Krankenhaus vorziehen. Dabei kann man die Fakten in einem Satz zusammenfassen: Es gibt in Deutschland keine klare Empfehlung für Nicht-Risiko-Schwangere, wo sie hingehen sollten. Man kann an beiden Orten eine gute, sichere Geburt erleben. Das heißt in Deutschland aber vor allem, dass der Vorwurf »Was? Zu Hause? Seid ihr verrückt?« nur von Zeitgenossen kommen kann, die die Fakten nicht kennen. Im Gegenteil: Im Krankenhaus ist die Wahrscheinlichkeit für Interventionen größer, die zu »unnötigen Komplikationen« führen können – so die Cochrane-Autoren Ole Olsen und Jette A. Clausen –, und zwar nicht aus medizinischen Gründen, sondern aus »Ungeduld«, zum Beispiel weil der Kreißsaal frei werden muss, die Schicht zu Ende ist oder das Personal zu viele Geburten gleichzeitig betreuen muss – und weil die Technik halt da sei.63 Die angespannte Situation in der Schwangerenversorgung, die oben erwähnt wurde, tut ihr Übriges dazu.
Eine Geburt wird dann als befriedigend empfunden, wenn die Mutter das Gefühl hat, selbstbestimmt geboren zu haben.
Es gibt viele mögliche Geburtsorte und Wege, aber über eines sind sich alle Studien einig: Eine Geburt wird dann als befriedigend empfunden, wenn die Mutter das Gefühl hat, selbstbestimmt geboren zu haben – und dazu können auch viele Untersuchungen gehören. Ob das im Krankenhaus oder zu Hause, im Geburtshaus, mit viel Hilfe oder einer Hebamme, die die Frau eher in Ruhe gelassen hat, war, ist dabei nachrangig.
Wichtig ist eine Eins-zu-eins-Betreuung in einem Umfeld, das die Selbstbestimmung der gebärenden Frau sichern kann. Denn jede Frau reagiert anders auf Stress – und wie sie auf Stress reagiert, hat einen großen Einfluss auf ihre Bedürfnisse auch unter der Geburt. Wie sie mit ihrem Partner zusammenarbeiten kann, zeigt sich oft in Stresssituationen; und ob er dabei sein sollte oder nicht, ist eine sehr persönliche Entscheidung. Aber dass sie auf ihre persönliche Art und Weise gebären kann (und das kann auch heißen, einen Kaiserschnitt durchführen zu lassen), ist enorm wichtig dafür, wie sich die Frau mit diesem »einschneidenden« Ereignis in ihrem Leben fühlt und wie sich die Beziehung zu ihrem Kind entwickeln kann. Eltern sollten sich also gut über den Geburtsort informieren, sich darüber im Klaren sein, was sie selbst brauchen und wo sie dies bekommen können. Viele »Routine«-Praktiken wie Zeitdruck in der Eröffnungsphase, das ständige Tasten des Muttermundes während der Geburt oder schnelles Abnabeln des Neugeborenen stören die Intimsphäre der Gebärenden, sind unnötig oder sogar schädlich und brauchen von niemandem akzeptiert zu werden.
Um ihrer Familie einen gesunden Start zu ermöglichen, müssen Eltern ihre Bedürfnisse kennen und gegebenenfalls in einem überlasteten, auf Sicherheit und Routine aufgebauten Gesundheitssystem durchsetzen.
UNSERE BABYS SIND FRÜHGEBORENE – UND ZWAR ALLE
Die meisten Säugetiere kommen mit 90 Prozent ihres späteren Gehirnvolumens zur Welt. Schimpansen, unsere engsten Verwandten unter den Menschenaffen, legen zum Beispiel ein rasantes Gehirnwachstum kurz vor der Geburt hin, danach verlangsamt es sich.64 Ein Menschenbaby wird mit 25 Prozent seines späteren Gehirnvolumens geboren und zeigt ein ungewöhnlich schnelles Gehirnwachstum auch noch nach der Geburt bis ins zweite Lebensjahr hinein. Es gibt daher Wissenschaftler, die davon ausgehen, dass unsere Babys eigentlich noch viele Monate im Bauch bleiben müssten, um »reif« geboren zu werden – aber dann würden sie nicht mehr durch unsere engen Becken passen, die sich an den aufrechten Gang angepasst haben. Daher müssen sie früher raus. Und es ist erstaunlich, wie gut sie diese »physiologische Frühgeburt« meistern.
Eine Homo-sapiens-Geburt hat theoretisch verschiedene Phasen: die Eröffnungs-, die Übergangs-, die Austritts- und die Nachgeburtsphase. So sagt man in Deutschland, international spricht man oft von drei Phasen. Und damit fängt die Unsicherheit an: Geburtsstadien an sich sind eine Erfindung des Industriezeitalters, und frühe Wehen gehörten lange gar nicht dazu.65 Wann die ersten »effektiven Wehen« starten, ist eigentlich nicht so wichtig. Nur für diejenigen, die den Geburtsprozess überwachen müssen oder wollen, spielt es eine Rolle. Gleichzeitig ist es leider schwer zu sagen, wann sie beginnen, weil es keine biologischen Marker gibt, an denen man es festmachen könnte. Wissenschaftler ziehen sich daher darauf zurück, dass es eine fünfwöchige Phase rund um den errechneten Termin (der selbst sehr unsicher ist) gibt, in der eine Geburt »normal« ist. Das Problem: Die Forschung zeigt, dass die Interventionsrate steigt, wenn Gebärende zu früh ins Krankenhaus gehen.66 Die WHO hat in diesem Wirrwarr für sich entschieden, dass die aktive Geburt beginnt, wenn der Muttermund 5 Zentimeter eröffnet ist. Andere empfehlen sogar, die Geburt erst ab 6 Zentimetern Eröffnung als begonnen anzusehen, um die Kaiserschnittraten deutlich zu senken.67 Wenn sie es möchte, kann jede Frau auch selbst die Eröffnung ihres Muttermundes mit zwei Fingern prüfen. Es gibt keinen Grund, dass Fremde in die Intimsphäre der Gebärenden greifen, was vor allem die Gefahr der Keimübertragung erhöht. Forscher halten vaginales Tasten des Muttermundes im Übrigen eh für überholt: »Es ist überraschend, dass diese Intervention ohne zuverlässigen Nachweis der Wirksamkeit so weit verbreitet ist, insbesondere angesichts der Sensibilität des Verfahrens für die Frauen, die es erhalten, und des Potenzials für nachteilige Folgen in einigen Situationen.«68
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