Название: Erziehen ohne Schimpfen
Автор: Nicola Schmidt
Издательство: Readbox publishing GmbH
Жанр: Учебная литература
isbn: 9783833872273
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Dauerstress und seine Folgen
An manchen Tagen läuft das System immer weiter. Wir haben Stress am Morgen mit Kindern, die sich nicht selbstständig anziehen, Stress auf der Arbeit mit schwierigen Kollegen, Stress beim Abholen im Stau auf der Hauptstraße, Stress mit quengeligen Kinder auf dem Weg zum Schwimmkurs, Stress beim Feierabendstau auf dem Weg nach Hause, dann Stress mit hungrigen Kindern im Supermarkt und schließlich Stress, weil wir noch schnell Abendessen kochen, mit Oma telefonieren, Hausaufgaben betreuen oder Koffer packen müssen.
Bis die Kinder endlich im Bett sind, hat unser Mandelkern stundenlang gefeuert, unser Herz pocht wie wild. Wir fühlen uns völlig AUSGEBRANNT und können gleichzeitig auch auf der Couch kaum abschalten und entspannen.
Denn für solchen Dauerstress ist unser Gehirn NICHT GEMACHT. Wir beginnen, hinter jedem Busch einen Berglöwen zu vermuten, wir können kaum noch klar denken, wir wissen nicht, wie wir aus der Situation wieder herauskommen, wir sind ständig erschöpft und können nicht wirklich ABSCHALTEN.
Und es kommt noch schlimmer: Dauerstress erzeugt wieder mehr Stress. Teile unseres Gehirns gehen bei dieser Überlastung im Laufe der Zeit regelrecht »kaputt«. Stellen wir uns einen Motor vor, der ständig im roten Drehzahlbereich gefahren wird. Für uns Eltern ist es besonders interessant, hier genau hinzusehen.
Dauerstress schädigt unser Gehirn und damit die BEZIEHUNG zu uns selbst, unserem Partner und unseren Kindern. Vielleicht kennen Sie einige der folgenden stressinduzierten Gedanken:
»ICH KANN NICHT MEHR DENKEN.« – Je mehr Dauerstress wir haben, desto häufiger ist der präfrontale Cortex, also der Verstand, abgeschaltet. Er bleibt »unteraktiviert«. Analysieren, denken und planen fallen uns immer schwerer.
»ICH KOMME GAR NICHT MEHR RUNTER.« – Bei Dauerstress ist das ganze System irgendwann so überreizt, dass wir auch abends nicht mehr entspannen können, die Stressreaktion läuft dauerhaft weiter.
»DIE KINDER SIND UNMÖGLICH!« – Der Verstand bleibt auf Gefahr »programmiert«. Wir sehen daher die Kinder nachweislich negativer, als ein unbeteiligter Beobachter es tun würde, und übersehen die vielen »guten« Verhaltensweisen und Momente.
»WO SOLL DAS NUR HINFÜHREN?« – Durch die Überreizung wird der Mandelkern überaktiv und springt bei jeder Gelegenheit an. Wir bewerten zunehmend aus Wut und Angst heraus und sind unfähig, uns eine gute Zukunft vorzustellen.
»WO IST DER VERFLIXTE AUTOSCHLÜSSEL?« – Stress drosselt den Zwischenspeicher für Gedanken und Erinnerungen, unser Kurzzeitgedächtnis. Das führt dazu, dass uns unter Stress die Telefonnummer nicht einfällt, wir den Arzttermin vergessen oder den Autoschlüssel nicht finden, was uns zusätzlich stresst.
»JETZT STELL DICH NICHT SO AN!« – Unter Dauerstress bleibt unser System für Mitgefühl dauerhaft unteraktiviert. Es fällt uns schwerer, empathisch mit unseren Kindern zu sein, uns in sie einzufühlen. Wir verlangen mehr von ihnen, als sie leisten können.
»ES IST, WIE ES IST, WIR KÖNNEN ES NICHT ÄNDERN.« – Der dauerhaft unteraktivierte präfrontale Cortex kann nur noch schwer Ziele setzen, planen und positive Gefühle hervorbringen, wir haben das Gefühl, es gebe keinen Ausweg aus unserer Situation. Wenn der Dauerstress langfristig anhält, haben wir ein Problem. Denn es fällt uns immer schwerer, die Stressreaktion abzuschalten. Im schlimmsten Fall drohen dauerhafte Schäden am Hormonsystem und schließlich Burn-out und Depressionen.
Was Stress mit Erziehung zu tun hat
Doch schon lange bevor wir solche Effekte sehen, blockiert Stress eine gesunde Erziehung. Forscher können nachweisen, dass gestresste Eltern deutlich NEGATIVES Erziehungsverhalten zeigen. An entscheidenden Stellen sind wir nicht so leistungsfähig, wie wir sein könnten.
Aber was passiert denn da im Alltag, wenn wir Eltern ständig gestresst sind? Forscher haben das sehr genau beobachtet, um herauszufinden, wie sich die ganzen EFFEKTE im Gehirn am Ende auf unser Verhalten gegenüber den Kindern auswirken. Gibt es vielleicht STABILERE, stärkere, stressresistentere Kinder? Hören sie besser oder funktionieren sie besser, weil wir mehr fordern? Leider nein.
Gestresste Eltern haben durch ihr Verhalten vielmehr ein deutlich höheres Risiko, VERHALTENSAUFFÄLLIGE Kinder zu erziehen. Sie haben entgegen der landläufigen Meinung nämlich keineswegs Kinder, die besser funktionieren.
Gestresste Eltern stellen Anforderungen, denen die Kinder nicht genügen können – nicht, weil sie nicht wollen, sondern weil sie eben noch Kinder sind.
Beispiele dafür kennen wir alle: Wir wollen, dass das Baby mit sechs Monaten durchschläft, dass sich die Zweijährige die Schuhe anziehen lässt, dass sich die Dreijährige nicht immer mit ihrer Schwester streitet, dass der Fünfjährige brav wartet, bis das Essen fertig ist, und dass der Große klaglos seine Hausaufgaben macht. Außerdem sollen die Kinder sich schnell anziehen, wenn wir losmüssen, und still sein, wenn wir E-Mails schreiben, nicht naschen, bis das Essen auf dem Tisch steht, und sich tadellos benehmen, wenn Besuch da ist.
All diese Anforderungen stellen die Kinder wiederum selbst unter Stress – und sie beginnen, sich problematisch zu verhalten. Die Kinder weinen oder schreien, streiten oder machen Fehler. Sie vergessen Dinge oder werden ganz still, gehen in den dritten Modus, das »Einfrieren«, das zwar leise passiert, aber die Stressreaktion in ihrem kleinen Körper läuft unsichtbar immer weiter.
So prägen wir schon die ganz kleinen Gehirne in dem gleichen Maße, wie wir das unsere prägen, wenn wir uns erlauben, ständig gestresst zu sein.
Was Uroma mit unserem Stress zu tun hat
Doch oft können wir nicht einmal etwas dafür, dass wir so schnell »hochfahren«. Haben Sie sich auch schon mal gefragt, warum manche Eltern schneller die Nerven verlieren als andere? Es gibt natürlich vielfältige Gründe, zum Beispiel Lebensumstände, Belastung und Temperament der Kinder. Doch wir wissen aus der Forschung, dass etwa 30 Prozent aller Menschen auch unter widrigsten Umständen keine schädigenden Stressreaktionen zeigen. Drei Faktoren sollten wir uns daher vor Augen halten, bevor wir uns schuldig fühlen für unsere Ausraster:
1. FRÜHE PRÄGUNG: Das Stresssystem wird in den ersten Lebensjahren jedes Menschen so eingestellt, wie es dann im späteren Leben reagieren soll. Das war ursprünglich ein gutes System: Wenn ein kleiner Homo sapiens in einer Gegend mit vielen Raubtieren aufwuchs, war es klug, etwas vorsichtiger und schneller alarmiert zu sein als in einer Gegend mit wenigen Fressfeinden. Heute haben allerdings viele Menschen durch Verlusterfahrungen als Säugling oder eine sehr strenge Erziehung ein sehr reaktives Stresssystem, obwohl wir heute in einer sehr sicheren Welt leben. Wenn unser Stresssystem so von unserer Kindheit her auf »Gefahr« gepolt ist, dann geraten wir schnell unter Druck – ob wir wollen oder nicht.
2. EPIGENETIK: Das Stresssystem hat auch etwas mit unserer Familie zu tun. In Rattenexperimenten kann man zeigen, dass Stresssysteme sich vererben. Wenn eine Mutterratte massivem Stress ausgesetzt wird, reagieren ihre Kinder auch dann stark auf Reize, wenn sie selbst nie starken Stress erfahren mussten. Genauso ist es bei uns: Wenn unsere Eltern oder Großeltern massivem Stress ausgesetzt waren (zum Beispiel durch Krieg, Hunger, Flucht oder Vertreibung), dann müssen wir damit rechnen, auch selbst stark auf Stimuli zu reagieren.
3. VERANTWORTUNG: Das Stresssystem ist zwar voreingestellt, aber wie wir damit umgehen, liegt glücklicherweise in unserer Hand. Durch Meditation, Körperwahrnehmung und Achtsamkeitsübungen können wir der Epigenetik ein Schnippchen schlagen und lernen, mit unserem schnell СКАЧАТЬ