Название: Erziehen ohne Schimpfen
Автор: Nicola Schmidt
Издательство: Readbox publishing GmbH
Жанр: Учебная литература
isbn: 9783833872273
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Wir reagieren im normalen Alltag nicht instinktiv oder im Affekt, sondern nach einem blitzschnell ablaufenden Denkvorgang, der uns sagt, was jetzt eine kluge Handlung wäre.
Über chaotische Kollegen und fallende Äste
Der Vorteil dieses Systems liegt auf der Hand: Unser sehr starker, sehr kluger Verstand entscheidet immer mit. In jeder Lebenslage, egal ob zu Hause am sonntäglichen Frühstückstisch oder wochentags am Arbeitsplatz. Und selbst wenn wir den Impuls verspüren, unserem Kollegen endlich mal ordentlich die Meinung zu sagen, können wir diesen Impuls unterdrücken. Denn wir wissen, dass er auf freundliche Hinweise viel besser reagiert. Wir sagen dann vielleicht einem Freund: »Ich hätte große Lust, diesem Chaoten mal so richtig die Meinung zu geigen!« – aber wir tun es nicht. Stattdessen warten wir auf einen günstigen Moment, um in Ruhe zu besprechen, dass wir zum Beispiel Terminankündigungen etwas früher brauchen, um uns darauf einzustellen.
Leider hat dieses System auch einen Nachteil: Es ist relativ langsam. Wenn wir beim Waldspaziergang über uns einen Ast abbrechen hören, haben wir schlicht nicht die ZEIT, die Information des sensorischen Systems (Knacken von Holz über uns) zu bewerten und zu analysieren: Ist es gefährlich? Wo ist der Ast? Wie dick ist er? Lohnt sich der Aufwand, zur Seite zu springen? Wer das in den letzten Jahrtausenden gemacht hat, hat sicher nicht lange überlebt. Es war KLÜGER, ohne nachzudenken schnell zur Seite zu springen.
Deshalb nimmt unser Gehirn im Gefahrenfall eine ursprünglich sinnvolle, heute aber fatale Abkürzung. Wenn wir etwas Gefährliches hören oder sehen, umgeht das Gehirn den präfrontalen Cortex. Es würde einfach zu lange dauern, den Umweg über den Verstand zu gehen. Daher sendet das sensorische System seine Nachrichten lieber sofort an das motorische System – wir reagieren direkt und springen zur Seite. Diese Reaktion nennt man die Kampf-oder-Flucht-Reaktion.
Mutter Natur hat es nur gut gemeint! Das Problem ist: Unter Stress handeln wir leider »ohne Sinn und Verstand«, wie der Volksmund völlig richtig sagt. Denn der Verstand ist gar nicht mit dabei! Es ist etwas ganz anderes, das uns plötzlich steuert.
Wenn der Mandelkern am Steuer sitzt
Aber wenn wir in Stress geraten und der Verstand nicht mehr mitredet – wer sitzt denn dann am Steuer?
Die Stressreaktion geht hauptsächlich von einem Gehirnareal aus, das Mandelkern (im Fachjargon: Amygdala) genannt wird. Dieses Areal »feuert«, sobald das sensorische System eine Gefahr meldet. Der Mandelkern arbeitet dann ganz pflichtgemäß und völlig UNABHÄNGIG vom Verstand eine Reihe von sehr sinnvollen Aufgaben ab:
» Er aktiviert das »sympathische Nervensystem«, also unser Stress- und Notfallsystem.
» Er beschleunigt unseren Herzschlag – das Herz »rast«, damit die Muskeln genug Sauerstoff zum Wegrennen oder Kämpfen haben.
» Er bewirkt, dass unsere Atmung flacher und schneller wird, so als würden wir einen Sprint laufen.
» Er erhöht den Blutdruck, damit Sauerstoff und im Verletzungsfall Blutgerinnungsfaktoren gleich an Ort und Stelle sind.
» Er aktiviert unsere Nebennierenrinde, damit sie uns mit körpereigenen Hormonen (Adrenalin, Noradrenalin, Cortisol) wach macht, auch wenn wir gerade noch verträumt spazieren gegangen sind.
» Er drosselt die Tätigkeit von Immunsystem und Verdauung, damit diese beiden anstrengenden Aufgaben dem Körper jetzt in der Notsituation keine Energie entziehen.
» Er stoppt den Zwischenspeicher von Erinnerungen, den Hippocampus – daher wissen wir oft nach einem Streit nicht mehr, worum es eigentlich ging.
» Er reduziert unsere Fähigkeit für Mitgefühl: Wir wollen schließlich überleben und dafür dem Raubtier den Knüppel über den Kopf ziehen und uns nicht erst mal fragen, ob ihm das vielleicht wehtut oder es gerade ein paar süße Junge hat.
» Er drosselt die Produktion von Glückshormonen. Schließlich sollen wir jetzt kämpfen oder fliehen und nicht selig in den Mond schauen.
Der Mandelkern ist verflixt SCHNELL und reagiert in Bruchteilen von Sekunden, sobald ein Notfallsignal im Gehirn eingegangen ist. Der Hormonspiegel ist ebenfalls sofort da, wir fühlen »das Adrenalin einschießen«. Genauso schnell ist die Reaktion aber auch wieder vorbei: Der Mandelkern hört nach etwa ZEHN SEKUNDEN wieder auf zu feuern, wenn kein weiterer Stressreiz kommt, und der Hormonspiegel braucht etwa zehn Minuten, um sich wieder abzubauen. Wenn wir zur Seite gesprungen sind und die Gefahr damit gebannt ist, ist das Gehirn nach wenigen Sekunden wieder ruhig und nach zehn Minuten sind wir auch körperlich wieder im »NORMALMODUS«.
Wir kennen das: Wir sehen im Flur einen Schatten im Augenwinkel, wir erschrecken kurz, aber dann ist es nur ein Kind, das nochmals zur Toilette will. Wir entspannen uns sofort wieder und küssen unser Kind zur Nacht. Wenn wir jedoch im Dauerstress sind, kann es sein, dass wir das Kind anschnauzen. Und dafür gibt es ganz handfeste Gründe in unserer Gehirnarchitektur.
WARUM WIR IM STRESS NICHT ERZIEHEN KÖNNEN
Ursprünglich war unser Stresssystem eine feine Sache. Forscher sagen, dass unsere Vorfahren den größten Teil ihres Lebens im »parasympathischen Modus« verbracht haben, also in einem entspannten Wachzustand, in dem jede Information in Ruhe vom Verstand geprüft werden konnte. Nur für kurze Gefahrenmomente wechselten sie in das »sympathische Nervensystem«, also das Stresssystem des Körpers, nutzten die bereitgestellte Energie für Kampf, Flucht oder auch die Jagd. Und sie bauten die dort entstehenden Stresshormone schon währenddessen oder kurz danach – eben beim Kämpfen, Fliehen oder Jagen – wieder ab. Wir sehen das heute noch bei uns daran, dass Bewegung, zum Beispiel ein kurzer Sprint zum Bus, die Stresshormone sehr schnell und effektiv abbaut. Dafür war das System einstmals gedacht.
Der ganz normale Wahnsinn
Heute befinden sich jedoch viele von uns in dauerhaftem Stress. Stellen Sie sich vor, Sie haben es wirklich eilig, weil der Kindergarten gleich schließt, aber Sie stehen im STAU. Wenn Sie befürchten müssen, dass Ihr Kind als einziges noch nicht abgeholt ist und die Erzieher Sie mit langen Gesichtern empfangen werden, kann es gut sein, dass Sie diese Situation STRESST. Dann fährt Ihr Körper die komplette Stressreaktion ab, inklusive erhöhtem Herzschlag, Hormonspiegel, reduzierter Verdauung und Deaktivierung des präfrontalen Cortex. Gut möglich, dass Sie in dieser Situation einen anderen Wagen schneiden, fluchen, einen Radfahrer übersehen oder sich sogar verfahren, weil Ihr Verstand aufgrund der Stressreaktion nicht mehr gut funktioniert.
Jetzt erreichen wir den Kindergarten mit letzter Not, aber wir haben den Stress dabei nicht abgebaut. Wir saßen ja »nur« im Auto, haben uns also nicht bewegt. Wenn jetzt das Kind quengelt oder beim Losfahren aus Versehen seine Brotdose auf dem Rücksitz ausleert, kann es gut sein, dass wir gestresst reagieren und Dinge tun oder sagen, die wir normalerweise nicht tun würden. Denn wir sind immer noch in unserer körperlichen STRESSREAKTION gefangen und können nicht mehr klar denken. Wenn wir uns nicht körperlich bewegen, wird es eine Weile dauern, bis die Hormone abgebaut sind. Kommt jetzt ein neuer STRESSREIZ hinzu (»Wir haben die Badesachen für СКАЧАТЬ