„Tatsächlich?“ Bount gab sich den Anschein, als wäre ihm das noch nicht aufgefallen. „Vielleicht kennen sie sich schon länger.“
Mehr sagte er zu diesem Thema nicht. Er traute keinem. Die Ermittlungen in diesem Fall waren schwierig genug. Er würde sich hüten, etwaige Erkenntnisse oder Vermutungen vorzeitig preiszugeben.
Sie kehrten ins Haus zurück.
Hier hatten sich die übrigen bereits in dem Raum versammelt, in dem das Frühstück serviert wurde.
„Ah, da sind Sie ja“, wurden sie von Strother Lynch begrüßt. „Wirklich ein Jammer! Ich hatte gehofft, der Killer hätte Sie als nächstes Opfer ausgesucht.“
„Mäßigen Sie sich, mein Sohn“, zürnte der Reverend und band sich die Serviette um.
Die Frauen wirkten blass und übernächtigt. Lediglich Jim, der einen Stapel Brennholz durch den Raum schleppte, machte einen gelassenen Eindruck.
„Haben Sie wieder ein Briefchen für uns?“, rief ihm Lynch nach.
Der Doc warf Bount einen Blick zu, der wohl ausdrücken sollte: „Was habe ich Ihnen gesagt? Auf den Burschen müssen wir achten.“
Bount achtete auf jeden. Ihm fiel auf, dass Reverend Pool von Minute zu Minute nervöser wurde.
„Haben Sie etwas, Reverend?“, erkundigte er sich.
Der Mann aus Illinois sah ihn treuherzig an.
„Und ob. Einen ganz und gar unchristlichen Hunger. Der Herr möge mir verzeihen. Wahrscheinlich liegt es an den Aufregungen.“
„Wo bleibt das Frühstück?“, fragte nun auch Lynch. Er saß den Taylor Frauen gegenüber und verschlang Mabel förmlich mit den Augen. Das Mädchen errötete und wusste nicht, wo es hinsehen sollte.
„Ist Tessa überhaupt schon aufgestanden?“, fragte der Doc.
Jim kam gerade zurück.
„Sie ist immer die erste. Sie wird gleich kommen.“
Aber die Haushälterin kam auch während der nächsten Minuten nicht.
Da erhob sich Bount und ging in die Küche. Bei dem Anblick, der sich ihm bot, wurde ihm übel. Tessa lag vor dem Herd. Die Mordwaffe steckte neben ihr im Fußboden. Die Klinge spießte einen Briefumschlag auf.
Dass die Ärmste tot war, brauchte Bount nicht erst zu untersuchen. Das war offensichtlich.
Da, abgesehen von dem Messer, in ihrer Umgebung peinliche Ordnung herrschte, hatte anscheinend kein Kampf stattgefunden. Der Killer musste von hinten über sie hergefallen sein.
Jim? Kraft genug hatte er. Er kannte Tessas Gewohnheiten am besten. Am schwersten wog aber die Tatsache, dass die Frau ihm vermutlich von allen am meisten vertraut hatte. Schon deshalb hätte sie keinen Verdacht geschöpft.
Bount drückte ihr die Augen zu. Er kehrte zu den anderen zurück und winkte den Doc heran. „Sind Sie in der Lage, bei einem Menschen die Todeszeit zu bestimmen?“, fragte er, als sie den Raum verlassen hatten.
Doc Caan bekam einen Hustenkrampf. Als er sich leidlich erholt hatte, würgte er hervor: „Tessa?“
Bount nickte.
„Der Wahnsinnige hat seine Drohung abermals wahr gemacht. Dass er ausgerechnet Tessa ausgewählt hat, kann dreierlei Gründe haben. Entweder verdächtigte sie ihn als Täter. Oder sie fiel ihm nur zufällig in die Hände.“
„Und die dritte Möglichkeit?“
„Tessa war die einzige, für die er in seinem Plan keine weitere Verwendung sah.“
„Und diesen Mann nennen Sie einen Verrückten?“
„Ich nannte lediglich die Möglichkeiten. Was glauben Sie, wie lange sie schon tot ist?“
Der Arzt beugte sich mit sichtlichem Unbehagen über die Leiche.
„Schwer zu sagen“, erklärte er. „Aber kaum länger als eine halbe Stunde.“ Mit dieser Angabe gab sich Bount zufrieden.'
Er zog das Messer aus dem Fußboden, wobei er es lediglich an der Klinge anfasste. Noch hatte er die Hoffnung nicht aufgegeben, dass die Polizei informiert werden konnte. Wenn dann der Killer noch nicht gefunden worden war, sollten sich die Beamten wenigstens über ein paar brauchbare Fingerabdrücke freuen. Er nahm den Brief und öffnete ihn. Was da stand, war der präzise Plan zur Befreiung von sechs Gefangenen. Die Aktion sollte in einer knappen Stunde anlaufen.
12
Die Nachricht von Tessas Ermordung löste allgemeines Entsetzen aus.
Strother Lynch konnte sich nicht die Bemerkung verkneifen: „Meines Wissens sind Sie als Erster von uns aufgestanden, Reiniger. Wenn mich einer fragt, ich traue Ihnen den Mord glatt zu.“
Bount behielt die Ruhe.
„Okay! Jetzt sind Sie Ihre Meinung los. Jeder von uns hat sich zweifellos längst Gedanken über den Mörder gemacht. Auch ich, Lynch. Die Sache hat nur einen Haken. Weder Sie noch ich, noch einer der anderen kann seine Theorie beweisen. Jeder von uns dürfte inzwischen begriffen haben, dass der Killer nicht lange fackelt. Er hat uns eindeutige Anweisungen hinterlassen. Ich sehe keine andere Möglichkeit, als sie buchstabengetreu zu befolgen, auch wenn mir das noch so sehr gegen den Strich geht.“
„Sind Sie noch zu retten? Sie wollen sich dazu hergeben, diese Galgenvögel zu befreien? Das ist ein Verbrechen. Aber ich habe ja noch nie viel von Ihnen gehalten.“
„Das dürfte inzwischen jedem bekannt sein, Lynch. Wenn Sie eine Möglichkeit sehen zu verhindern, dass der Killer seine Freunde von uns herausholen lässt, dann sagen Sie es. Ich muss leider passen. Wir haben innerhalb kürzester Zeit hier drei Tote. Von den verbliebenen sieben Menschen, die sich noch auf der Ranch befinden, dürften fünf oder sechs unschuldig sein. Ich weigere mich, auch deren Leben noch aufs Spiel zu setzen. Sogar Ihr Leben, Lynch, werde ich nicht opfern, solange es einen anderen Weg gibt.“
Strother Lynch sah den Detektiv missmutig an, sagte aber nichts.
Die Anweisung sah vor, dass Bount zusammen mit Lynch und dem Doc die Gefangenen in Alliance befreite. Alle übrigen sollten als Geiseln zurückbleiben. Es war zweifelhaft, wem der gefährlichere Part zugedacht worden war. Auf jeden Fall wollte Bount nichts tun, was die Geiseln gefährdete. Er fragte sich schon jetzt, wie es weitergehen würde, falls es ihnen tatsächlich gelang, die sechs Gangster freizubekommen. Hatten sie dann ihre Schuldigkeit getan und mussten sterben? Oder hatte sich der geheimnisvolle Boss noch etwas anderes ausgedacht?
Das Frühstück bereiteten Gladys und Mabel Taylor, nachdem Jim und Lynch Tessas Leiche fortgeschafft hatten.
Bei keinem stellte sich der richtige Appetit ein. Sogar Reverend Pool hatte seinen Hunger vergessen.
Nach dem Essen teilten sich die Anwesenden in zwei Gruppen. Der Reverend СКАЧАТЬ