Название: Geist & Leben 3/2020
Автор: Verlag Echter
Издательство: Readbox publishing GmbH
Жанр: Религия: прочее
isbn: 9783429064693
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Eine Betrachtung aller einzelnen Gestalten würde jeden Rahmen sprengen.2 Eine Auswahl ist nötig. Exemplarisch sollen im Folgenden einige wenige Figuren näher in Augenschein genommen werden: vom Anfang, aus der Mitte und vom Schluss des Evangeliums. Im Hintergrund steht die Frage nach ihrer grundlegenden Bedeutung und Funktion: Welche Aufgabe übernehmen und welche Botschaft vermitteln die vielen verschiedenen Figuren innerhalb der narrativen Strategie des Johannesevangeliums?
Die ersten Jünger: Den Weg ins Evangelium finden (Joh 1,35–39)
Das Johannesevangelium beginnt mit einer Abstammungsurkunde Jesu ganz eigener Art. In tieftheologischen Begriffen und Bildern fasst der Prolog (Joh 1,1–18) zusammen, wer Jesus ist. Vom Uranfang allen Seins aus bewegt sich der Hymnus bis in die konkrete Gegenwart der Lebensgeschichte Jesu hinein. Schritt für Schritt führt der Prolog die Leser(innen) des Evangeliums auf den irdischen Boden jenes Plans, den Gott seit Urzeiten verfolgt hat: Der ewige Logos, der einzige Sohn des Vaters, wird Fleisch (Joh 1,14). Johannes der Täufer fungiert als Zeuge für dieses Geschehen: für das Licht (Joh 1,7), das auf Erden und mitten in der Finsternis erschienen ist. Johannes stellt das Verbindungsglied dar: zwischen dem hymnischen Eröffnungsportal des Evangeliums und der Welt der Erzählung. Mit Joh 1,19 wird das schon in Joh 1,7 f. erwähnte Zeugnis des Täufers in Frage- und Antwortform wiedergegeben (Joh 1,19 ff.). Der Täufer weist auf den hin, der nach ihm kommt (Joh 1,30). Seine Rolle ist dann erfüllt, wenn er selbst keine Rolle mehr spielt: wenn die Augen von ihm weg und auf Jesus gerichtet werden.
Am Beginn der kurzen Erzählsequenz (Joh 1,35–39) steht Johannes inmitten von zwei namenlosen Jüngern. Auf sein Wort hin – „Seht, das Lamm Gottes“ (Joh 1,36) – folgen die beiden Jünger Jesus nach. Schon die Tatsache, dass die Jünger nicht namentlich identifiziert werden, ist, zumal am Anfang des Evangeliums, wichtig. Namen schaffen Distanz. Namen machen deutlich, dass es sich um konkrete Personen handelt. Die Namenlosigkeit aber legt die Figuren nicht auf eine bestimmte Zeit oder Biografie fest. Die Namenlosigkeit ist eine Einladung an die Leser(innen), in der Figur kein Einzelschicksal, sondern einen Typus zu erkennen. Die Anonymität macht die beiden Jünger zu „Jedermanns“, die meinen Namen tragen könnten.
Wie wird man ein Jünger? Die Erzählung macht deutlich: nicht durch Zufall, nicht einfach so, auch nicht durch langes Grübeln oder Überlegen. Jüngerschaft braucht Pat(inn)en und Wegweiser. Johannes setzt die beiden in Gang, indem er sie auf den Weg schickt: „Seht, das Lamm Gottes!“ (Joh 1,36)
Das „Lamm Gottes“
Mit dieser Titulatur beginnt im Johannesevangelium eine weit verzweigte theologische Sinnlinie. Hier wird Jesus (wie schon in Joh 1,29) als „Lamm Gottes“ bezeichnet. Was das heißt, ist hier an dieser Stelle noch gänzlich unklar. Im Lauf des Evangeliums wird der Begriff immer weiter entfaltet. Bei der Kreuzigung Jesu schließt sich der Kreis. Die Anspielungen auf das Paschafest sind dann nicht mehr zu überhören: Wie dem Paschalamm (Ex 12,46) werden Jesu Beine nicht zerschlagen (Joh 19,33). Anders als in den synoptischen Evangelien wird Jesus ein Schwamm mit Essig gereicht, der auf einem Ysopzweig steckt (Joh 19,29). Mit einem Ysopzweig bestrichen die Israeliten in der Nacht des Auszugs aus Ägypten ihre Türen mit dem Blut des Paschalammes (Ex 12,22). Eigens erwähnt das Johannesevangelium, dass aus der geöffneten Seite Jesu Blut und Wasser fließen (Joh 19,34). Immer ist „die Paschasymbolik (…) Mittel der Deutung des Todes Jesu“3. Was der Täufer am Beginn des Evangeliums sagt, wird im Laufe des Evangeliums vollends deutlich: „Jesus ist das wahre Passalamm, das sterbend die Sünde der Welt auf sich nimmt (vgl. Joh 1,29).“4
Für die beiden Jünger mag der Hinweis des Täufers noch recht kryptisch klingen. Die Bezeichnung als „Lamm Gottes“ sagt noch nicht alles und vor allem noch nichts Genaues. Es ist ein Lockruf, der Spannung weckt und zum entdeckenden Aufbruch motiviert. Dementsprechend folgen die beiden Jünger, fast detektivisch, Jesus mit gehörigem Sicherheitsabstand nach. Jesus muss sich ja umwenden, um sie anzublicken und zu fragen.
Direkt, in der 2. Person Plural, spricht Jesus die Jünger an: „Was sucht ihr?“ (Joh 1,38) „Suchen“ ist im Johannesevangelium ein großes Thema. Immer wieder suchen Menschen nach Jesus (Joh 6,24; 7,11; 12,21). Vor dem offenen Grab wird Maria von Magdala am Ende des Evangeliums von Jesus gefragt: „Wen suchst du?“ (Joh 20,15) Die Frage legt sich wie ein Band um das Johannesevangelium. Das Suchen charakterisiert die Jünger und zeichnet sie aus. Wer meint, alles zu haben, wer nichts sucht, wer sich nach nichts mehr sehnt und wem nichts fehlt, der macht sich nicht auf den Weg, der folgt niemandem nach.
„Bleiben“
Die beiden Jünger antworten mit einer Frage. Wörtlich übersetzt lautet sie: „Meister, wo bleibst du?“ (Joh 1,38) Das Wort „bleiben“ ist ein johanneisches Grundverb. An vierzig Stellen wird es im Johannesevangelium verwendet. Jesus charakterisiert die Rolle eines Jüngers bzw. einer Jüngerin mit diesem Wort: „Bleibt in mir und ich bleibe in euch.“ (Joh 15,4) Jüngerschaft kreist stets darum, denn immer geht es darum, bei Jesus zu bleiben (Joh 15,5–7.9). Insofern fragen die Jünger nach dem ureigenen Ort der Jüngerschaft: „Meister, wo bleibst du?“ Dort ist auch der Ort eines Jüngers. Dort, wo du bist, wollen wir sein.
Nicht von ungefähr steht die sich anschließende Einladung Jesu im Futur: „Kommt, und ihr werdet sehen!“ (Joh 1,39) Dieses „Sehen“ erschöpft sich nicht im Hinschauen. Dieses Sehen geht tiefer und meint „erkennen“ und „begreifen“. Die Jünger werden zutiefst verstehen, was die Sendung und der Ort Jesu sind. Am Beginn des Evangeliums fordert das Futur auch „die Hörer und Leser des 4. Evangeliums“ auf, „in die Textwelt einzutreten, nach Sinn zu suchen und ihn zu finden“5. Wer das Evangelium lesend durchwandert, wird „sehen“. Das Evangelium ist das Medium, das den Leser(inne)n Begegnung ermöglicht und Erkenntnis vermittelt.
Es mag enttäuschen, dass die Erzählung endet, ohne weitere Details zu nennen. Wer wissen möchte, wo Jesus – im johanneischen Sinn – „bleibt“, muss weiterlesen. Fast lapidar heißt es nur, dass die Jünger „jenen Tag bei ihm blieben“ und es „um die zehnte Stunde war“ (Joh 1,39). Wie immer im Johannesevangelium ist man gut beraten, hinter den Worten und Begriffen theologischen Tiefgang zu vermuten. So mag dieser eine Tag für das Ganze der Jüngerschaft und die Summe des Lebens und Wirkens Jesu stehen. Diese Anfangserzählung lässt sich als komprimiertes Bild für den gesamten Nachfolgeweg der Jünger(innen) begreifen. Sie verfolgten also den Weg Jesu vom Anfang bis zum Ende.
Die „Stunde“
Der Begriff „Stunde“ ist im Johannesevangelium ebenso bedeutungsvoll. Die Stunde, von der Jesus wiederholt spricht (Joh 2,4; 4,23; 12,23; 17,1), meint keine chronologische Zeiteinheit. Die Stunde steht für die Summe des Wirkens Jesu, für die Erhöhung und Verherrlichung. Sie umfasst die Passion, die Kreuzigung, aber eben auch die Auferstehung Jesu und die Geistsendung (Joh 19,30). Die Jüngerschaft beginnt in der zehnten Stunde. Der Tradition nach stirbt Jesus um die neunte Stunde. Die zehnte Stunde ist jene Stunde, in der alles geschehen ist: Jesus ist zum Vater erhöht. Von dieser guten Aussicht zehrt die Jüngerschaft. Ein(e) Jünger(in) lebt von der „zehnten Stunde“. Sie setzt den Nachfolgeweg in ein helles, österliches Licht.
Die ersten beiden namenlosen Jünger ebnen allen Leser(inne)n den Weg ins Evangelium. Angesprochen sind sehnsüchtige Leser(innen), die mehr erfahren und genauer erkennen wollen. Wer diesen beiden Jüngern folgt und sich mit – oder besser: in ihnen – auf den Weg durch das Evangelium macht, „wird sehen“ und Näheres über Jesus erfahren. Das Buch des Evangeliums ist die Ausbildungsstätte der Jünger(innen). Es wurde geschrieben, „damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben Leben habt in seinem Namen“ (Joh 20,31).
Der geliebte Jünger: Garant und Vorbild
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