Название: Du bist ok, so wie du bist
Автор: Katharina Saalfrank
Издательство: Readbox publishing GmbH
Жанр: Современная зарубежная литература
isbn: 9783833874574
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GEWALT IN FAMILIEN
Gewalt ist Gewalt. Und so möchte ich an dieser Stelle auf alle ihre Formen schauen, auch auf extreme, über die wir alle erschrecken. Ich möchte ein Bewusstsein dafür schaffen, dass Kinder auch heute noch in ihren Familien körperlicher Gewalt ausgesetzt sind. Auch wenn es hinter geschlossenen Türen geschieht, passiert es doch INMITTEN UNSERER GESELLSCHAFT, oft auch vor unseren Augen – wir müssen nur hinsehen. Die Fakten und Zahlen sprechen für sich. Laut einer Pressemitteilung der Deutschen Kinderhilfe sind im Jahr 2018 136 Kinder gewaltsam zu Tode gekommen, in 98 Fällen liegt ein Tötungsversuch vor. Die Zahl der Misshandlungen lag bei 4180. Die meisten Delikte werden innerhalb der Familie verübt; es geht also nicht um Kinder, die in die Hände von fremden Gewalttätern gefallen sind.
Die Deutsche Kinderhilfe fordert angesichts dieser Zahlen seit Langem strukturelle Reformen des Kinder- und Jugendschutzes in Deutschland. Der Vorstandsvorsitzende der ständigen Kindervertretung, Rainer Becker, fordert jeden Einzelnen, jede Einzelne auf, nicht die Augen davor zu verschließen, dass Gewalt gegen Kinder jeden Tag mehrfach ausgeübt wird. Es gilt, dieser Gewalt entgegenzutreten, mit Kindern einen altersgerechten Umgang zu pflegen und ihre Rechte zu wahren.
Wie sieht es aus mit den Rechten von Kindern?
Nicht jedes Kind, das Gewalt erfährt, wird sichtbar verletzt oder kommt gleich ums Leben. Und vor allem: Nicht jede Gewalttat gegen Kinder wird angezeigt. Laut Polizei ist hier von einer sehr hohen Dunkelziffer auszugehen. Und nicht nur Kinder aus sogenannten bildungsfernen Schichten sind gefährdet, Opfer von Misshandlungen durch Erziehungsberechtigte zu werden. Auslöser für Gewalt gegen Kinder sind meist Stress und Überforderung, und so existiert Gewalt in allen Formen als ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. Eine im Jahr 2012 vom Forsa-Institut im Auftrag der Zeitschrift Eltern erstellte Studie offenbarte dramatische Zahlen. 40 Prozent der Eltern gaben an, ihre Kinder zu verprügeln (»Hintern versohlen«), weitere 10 Prozent schlagen ihre Kinder auch ins Gesicht (»Ohrfeige«). Laut einer neueren Forsa-Umfrage von 2017 finden 25 Prozent eine Ohrfeige in Ordnung. Zu berücksichtigen ist hier, dass Gewalt ein schambesetztes TABUTHEMA ist. So wird bei der Datenerhebung nur berücksichtigt, wer auch bereit ist, Auskunft zu erteilen. Es ist deshalb auch hier von einer hohen Dunkelziffer auszugehen.
»Anscheinend wissen wir, dass es ›nicht gut‹ ist, Kinder zu schlagen, aber in den Köpfen der Menschen hat sich der Wandel hin zu einer gewaltfreien Erziehung noch nicht vollzogen.«
Besonders erschütternd ist es aus meiner Sicht, dass wir uns offensichtlich eingestehen müssen, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der wir für Kinder zwar ein gesetzliches Recht auf eine gewaltfreie Erziehung verabschiedet haben, nach wie vor jedoch die Anwendung von körperlicher Gewalt als Maßnahme zu den allgemein akzeptierten Erziehungsmitteln gehört. Das hat auch damit zu tun, dass hier zwei Rechtsprinzipien kollidieren. Zwar verbietet das Bürgerliche Gesetzbuch körperliche Gewalt gegen Kinder. Zugleich jedoch erklärt das Grundgesetz die Erziehung zur obersten Obliegenheit der Eltern, die Kinder also gleichsam zur »Privatsache« der Familie (Artikel 6 GG):
(1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.
(2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.
(3) Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur aufgrund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen.
Dieser Artikel garantiert das unantastbare Grundrecht der Eltern, die Erziehungsverantwortung für Kinder zu übernehmen. Hintergrund ist der Schutz vor der staatlichen Allzuständigkeit, wie sie in Deutschland in totalitären Systemen praktiziert wurde, um der Familie einen privaten Schutzraum zuzuerkennen, in dem sich Kinder in einer staatsfernen und von persönlicher Zuwendung durch die Eltern geprägten Kindheit entwickeln können. Und wenn es richtig ist, dass die Familie ein Schutzraum des Privaten ist, so kann die Auslieferung von Kindern an dort praktizierte Gewalt nur durch einen gesamtgesellschaftlichen Paradigmenwechsel unterbunden werden. Das heißt: keinerlei Gewalt gegen Kinder zuzulassen und ihr nicht tatenlos gegenüberzustehen, weder auf der Straße noch, wenn dies hinter verschlossenen Türen zu hören ist. Der Staat kann nicht in die Familien hineinregieren; JEDER EINZELNE VON UNS IST GEFRAGT, jederzeit und überall einzuschreiten, wenn Kinder misshandelt werden. Familie ist ein Schutzraum des Privaten, aber physische oder psychische Gewalt gegen Kinder ist keine Privatsache.
Noch kein gesellschaftlicher Konsens
Mir begegnen Eltern, in deren Wertvorstellungen Gewalt fest verankert ist. Ich treffe auch auf Eltern, die ihre Kinder ab und zu schlagen, denen »die Hand ausrutscht«, denen »der Kragen platzt«. Und auch wenn manche hinterher von einem schlechten Gewissen geplagt werden, scheint das Bewusstsein für die Folgen von derartigen erzieherischen Maßnahmen wenig entwickelt. Zwischen »Nein, das sollte man nicht machen« und »Wieso nicht? Ein Klaps hat noch keinem geschadet« gibt es viele verschiedene persönliche Ansichten. Ganz so, als ob es Privatsache von Eltern wäre, ihr Kind zu schlagen.
Dabei ist die JURISTISCHE SACHLAGE klar. Kinder haben längst ein gesetzlich verbrieftes Recht auf eine gewaltfreie Erziehung. § 1631 Abs. 2 BGB: »Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.« Dieser Paragraf wurde im Jahr 2000 novelliert; vorher hatte es im Gesetzestext weit weniger eindeutig und entschieden geheißen: »Entwürdigende Erziehungsmaßnahmen, insbesondere körperliche und seelische Misshandlungen, sind unzulässig.« Die Stärkung der Kinderrechte durch diese – wenn auch recht späte – Novellierung ist begrüßenswert. Doch die eigentlich notwendige staatliche und gesellschaftliche Kampagne, die hätte folgen müssen, blieb bis heute aus. Es scheint keine wirkliche Einigung auf einen neuen gesellschaftlichen Konsens zu geben – einer Verhaltensänderung muss immer eine Haltungsänderung vorausgehen. Diese Haltungsänderung hat gesamtgesellschaftlich (noch) nicht stattgefunden.
Es ginge auch anders
Schaut man hingegen nach Schweden, findet man ein wunderbares Beispiel dafür, wie die Haltung einer ganzen Generation und aller Generationen, die auf sie folgen werden, verändert werden kann.
In Schweden wurde das Gesetz gegen die Züchtigung von Kindern im Jahr 1979 verabschiedet. Natürlich führte diese Tatsache allein nicht dazu, dass Eltern ihre Haltung und ihr Verhalten änderten. Die schwedische Regierung begleitete – auf ausdrücklichen Wunsch der Eltern nach Alternativen zu den herkömmlichen Erziehungsmethoden – das neue Gesetz mit einem ausführlichen »Kinder- und Eltern-Kodex« und startete eine breit angelegte Aufklärungskampagne. Slogans gegen die Züchtigung von Kindern wurden auf Milchpackungen gedruckt. Zudem fand jeder Haushalt in seinem Briefkasten eine Broschüre mit dem Titel »Wie erziehe ich mein Kind ohne körperliche Züchtigung?«. Diese Broschüre, in der praktische Fragen der Erziehung und des Alltags diskutiert und Tipps gegeben wurden, wurde zu einer Art Leitfaden einer neuen, СКАЧАТЬ