Bis ihr sie findet. Gytha Lodge
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      Gytha Lodge

      Bis ihr sie findet

      Kriminalroman

      Aus dem Englischen von Kristian Lutze

      Hoffmann und Campe

      Prolog

      Sie schlidderte und rutschte die Böschung hinunter, landete mit ihren Sportschuhen hart auf dem ebenen Boden des Flussufers und schwankte kurz, hielt aber das Gleichgewicht.

      »Jessie!«

      Als sie ihren Namen hörte, spürte sie ein Kribbeln der Aufregung. Sie zögerte kurz und ging dann weiter. Bloß ihr Bruder, nicht Dad. Oben auf dem Hang. Ihr Bruder würde sie nicht anbrüllen, weil sie allein losgelaufen war.

      Es war still. Viel stiller als um den Campingkocher, wo unablässig Dads Befehle ertönten. Ihre Ohren waren voll vom Rauschen der Blätter und lebhaftem Vogelgezwitscher.

      Sie trat aus dem Schatten der Bäume, die Sonne brannte Muster auf ihre vom Klettern schon heiße Haut. Sie schirmte die Augen gegen das grelle, vom Wasser reflektierte Licht ab. Sie hätte ihre Sonnenbrille mitnehmen sollen und überlegte, ob sie umkehren und sie holen sollte. Aber sie wollte auf keinen Fall gesehen werden. Denn dann würde man sie auf Schmutz inspizieren und anweisen, sich zu waschen, den Tisch zu decken und aufzuräumen.

      Geblendet trat sie in den Schatten der Uferböschung. Wohin sie auch blickte, sah sie blaue Muster. Über ihr breitete eine Buche ihre Äste aus, und Wurzeln wölbten sich aus dem Boden wie platt gedrückte Krocket-Tore. In einem blieb sie mit dem Fuß hängen und stolperte. Kurz glaubte sie, ins Wasser zu fallen, und ihr Herz setzte für einen Schlag aus. Im Schatten unter dem Baum sah der Fluss dunkel und unheimlich aus. Aber sie war eigentlich nicht nah genug, um hineinzufallen, und sie fing sich schnell wieder.

      Die Erde vor ihr war ausgehöhlt. Wie eine Hängematte, in die sie sich kuscheln wollte.

      »Jessie!«

      Na super. Diesmal war es ihr Dad und viel näher. In dem Ton, der eine Antwort verlangte. Aber vor ihr lagen die kühle Erde und ein Versteck. Sie streckte erst einen, dann den anderen Fuß in den Hohlraum. Sofort wurde ihr kühler, und sie setzte sich auf den leicht bröckeligen Boden. Sie stellte sich vor, sie sei eine Dörflerin aus dem frühen Mittelalter, die sich im Wald versteckte, während die Wikinger ihr Haus plünderten.

      Aber der Boden war nicht so weich wie erhofft. Wurzeln drückten gegen ihr Becken und ihren Rücken. Sie rutschte hin und her, um eine bequeme Position zu finden. Dabei verhakten sich ihre Shorts an irgendwas, das sie am Bein piekte.

      Sie streckte die Hand aus, löste den Stoff und spürte, wie die Wurzel in ihrer Hand zerbröselte. Als sie sie hochhob, blickte sie nicht auf altes Holz, sondern auf braune Flocken und die bleichen weißen Umrisse eines frisch freigelegten Knochens.

      Auch ohne ihren Vater, der Arzt war, wusste sie, dass sie einen menschlichen Finger in der Hand hielt.

      1.

      Jonah war auf halber Strecke den Blissford Hill hinauf, als das Telefon in der Reißverschlusstasche am Rücken seines Radlertrikots vibrierte. Er überlegte, nicht ranzugehen, doch dann hatte er das Bild seiner Mutter im Krankenhaus vor Augen; direkt gefolgt von dem leicht schwindelerregenden Gedanken, es könnte Michelle sein. Völlig irrational natürlich wie jedes Mal, wenn er das in den letzten acht Monaten gedacht hatte, aber er dachte es trotzdem.

      Er unterbrach den zermürbenden Anstieg und bremste mit zusammengebissenen Zähnen. Beim Abspringen stieß er sich das Schienbein an der Pedale und war ziemlich ungehalten, als er das Telefon endlich aus der Tasche gezerrt und auf dem Display die Nummer von Detective Sergeant Lightman erkannt hatte.

      »Ben?«, fragte er und hielt das Telefon dann ein Stück vom Mund weg, um sein Keuchen zu kaschieren.

      »Tut mir leid, Chief.« In seiner Stimme lag kein Bedauern. In seiner Stimme lag eigentlich nie irgendwas. Michelle hatte ihn immer Barbie genannt. Außergewöhnlich hübsch und gefühllos. Allerdings war er deutlich intelligenter als Barbie. »Ein Anruf von Detective Chief Superintendent Wilkinson. Er möchte, dass Sie Ihren Urlaub verschieben, um einen potenziellen Mord zu untersuchen. »

      Jonah ließ den DS warten. Er blickte zu der Hügelkuppe, die im Schatten von Bäumen lag. Der Anstieg wäre eine echte Schinderei, aber genau das wollte er. Seine Beine sehnten sich danach. Als er mit der freien Hand den Rennradlenker packte, spürte er den Schweiß auf der Handfläche. Er hatte das in letzter Zeit viel zu selten getan.

      »Sir?«

      »Wo?«, fragte er, ohne seine Verärgerung zu verbergen.

      »Brinken Wood.«

      Wieder entstand ein Schweigen, diesmal jedoch unabsichtlich. Jonah war für einen Moment wirklich sprachlos.

      »Frische Überreste?«, fragte er schließlich, obwohl er die Antwort schon zu kennen glaubte.

      »Laut dem DCS nicht«, erwiderte der Sergeant, der zu jung war, um es zu verstehen.

      Sein Radausflug war beendet, aber Jonah fühlte sich mit einem Mal ohnehin zu alt dafür. Er konnte sich nicht erinnern, sich jemals alt gefühlt zu haben.

      »Schicken Sie einen Wagen, der mich in Godshill abholt. Sie sollen die Sporttasche hinter meinem Schreibtisch mitbringen. Und finden Sie jemanden, der mir ein Deo leiht.«

      »Ja, Sir«, antwortete Lightman so gemessen wie immer.

      Jonah steckte das Telefon wieder in die Tasche seines Funktionsshirts. Der Schweiß auf seiner Haut kühlte schon ab und ließ ihn frösteln. Er sollte sich wieder auf den Weg machen. Bis nach Godshill waren es noch ein paar Kilometer.

      Doch er blieb noch eine ganze Minute lang regungslos stehen, bevor er sich endlich in Bewegung setzte und das Fahrrad langsam den Hügel hinaufschob.

      Hanson hatte es so eilig, aus dem Wagen zu steigen, dass sie mit dem Ärmel ihres teuren neuen Anzugs an der Tür hängen blieb und einen Faden zog. Ihr wurde leicht übel. Eigentlich hatte sie sich die Teile ohnehin nicht leisten können. Sie hatte sie zusammen mit drei anderen Anzügen in ihren ersten beiden Wochen als Detective Constable gekauft, weil sie vorher nur Jeans, Tanktops und Pullover sowie ein paar Kleider zum Ausgehen besessen hatte. Anzüge waren verdammt teuer. Und es tat ihr leid um das Geld, das sie stattdessen für ihr unzuverlässiges Auto hätte ausgeben können. Oder vielleicht sogar für ein Privatleben, das sie irgendwann offenbar komplett vergessen hatte.

      Sie strich den Ärmel glatt und fragte sich, ob ihre Mum sich die Stelle vielleicht ansehen könnte, vorausgesetzt, sie würde es in nächster Zeit schaffen, ihre Mutter zu besuchen. Bei Verdacht auf Mord musste sie vielleicht das ganze Wochenende durcharbeiten. Nächtelang nur von Koffein leben, bis sie den Mörder gefunden hatten. Der Gedanke ließ sie lächeln.

      Sie betrat das Criminal Investigation Department und sah Lightmans Kopf vor seinem Bildschirm. Sie fragte sich, wie lange er schon da war und ob er in seinem Leben noch irgendetwas anderes machte. Ob es eine Lightman-Frau oder Lightman-Kinder gab, die einfach noch nie zur Sprache gekommen waren. Irgendwie sah er aus wie ein untreuer Ehemann. Zu hübsch und zu verschlossen. Vielleicht waren es aber auch ihre eigenen jüngsten Erfahrungen, die ihre Sichtweise verzerrten.

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