Die Unwerten. Volker Dützer
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Название: Die Unwerten

Автор: Volker Dützer

Издательство: Автор

Жанр: Контркультура

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isbn: 9783839263648

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СКАЧАТЬ und ein Funktionär der Partei würde eine Rede halten. Danach verprügelten sie jeden, der ihnen nicht zujubelte.

      Hannah wärmte ihre Finger in den Manteltaschen. Ein eisiger Wind wehte von Norden her über das Kopfsteinpflaster. Nach einer halben Stunde schien Koschka die Geduld zu verlieren. Hannah beobachtete, dass er mit Maria und Ilsa im Schlepptau auf den Kiosk an der Straßenecke zulief, vermutlich um sich eine Zuckerstange zu kaufen. Eine zweite Chance würde sie nicht bekommen, unbehelligt nach Hause zu gelangen.

      Sie wagte sich aus dem Schutz des Portikus und lief los. Nur wenige Menschen waren unterwegs, die meisten Leute beschäftigten sich bereits mit den Vorbereitungen zum bevorstehenden Weihnachtsfest. Malisha feierte mit ihr das jüdische Lichterfest, das am 17. Dezember begann und am 24. endete. Weder Hannah noch ihre Mutter waren gläubig, Religion spielte in ihrem Leben kaum eine Rolle. Dennoch hatten sie früher die Synagoge besucht, weil sie die feierliche Atmosphäre mochten. Und nun brachte sie schlechte Nachrichten mit nach Hause, die die Festtagsstimmung drücken würden.

      Hannah blieb stehen, um Atem zu schöpfen, und betrachtete ihr geisterhaftes Spiegelbild in einer Schaufensterscheibe. Sie hatte das dichte schwarze Haar ihrer Mutter geerbt, ihre haselnussbraunen Augen und die schlanke, feingliedrige Gestalt. Sie begriff, dass sie noch keine Frau war, aber auch kein Kind mehr, und man würde sie nicht mehr als solches behandeln. Berthold hatte sich mehr als einmal vor seine Schülerin gestellt und sie versucht zu schützen, doch diesmal würde er nichts ausrichten können.

      Etwas hatte sich verändert. Man sah es nicht und konnte es nicht greifen, dennoch spürte Hannah die Krankheit, die die Herzen der Menschen schleichend vergiftete.

      Über eine Nebenstraße erreichte sie den Börneplatz. Von hier aus war es nicht mehr weit bis zu dem kleinen Schneiderladen ihrer Mutter. Auf der freien Fläche heulte der Wind um die Ruine der Synagoge, die vor einem Jahr ein Raub der Flammen geworden war. Seitdem hatte man die Mauern abgetragen, um das Baumaterial für andere Vorhaben zu verwenden. Wo das Gebäude nicht bis auf die Grundmauern verschwunden war, ragten vom Feuer geschwärzte Wände in die Höhe. Von der Hitze geborstene Steine hatte man zu riesigen Haufen aufgetürmt. Aus dem Lichterfest würde dieses Jahr nichts werden.

      Hannah spürte plötzlich, dass sie nicht allein war. Der Platz war menschenleer, niemand war zu sehen, dennoch hörte sie das leise Getrappel von eiligen Schritten. Sie beeilte sich, die Synagoge hinter sich zu lassen, und lief an einem der Schutthaufen vorbei. Ein Ziegelstein löste sich aus dem Haufen, rutschte herab und zog eine kleine Gerölllawine nach sich.

      »Flieger! Grüß mir die Sonne! Grüß mir die Sterne …«

      Koschka sprang hinter dem steinernen Berg hervor. Er grinste und sang laut und schief. Seinem Gegröle folgte eine Lachsalve. Die Mädchen bogen sich vor Lachen, Koschkas Kumpane, zwei Jungen in ihren HJ-Uniformen, waren auch da. Hannah versuchte, an Maria vorbei zu laufen, aber sie verstellte ihr den Weg.

      »Schau an, die verrückte Hannah. Fliegen-Pilz hat getobt wie ein Irrer«, sagte Ilsa.

      »Das weiß sie doch selber«, rief Koschka. »Dein Schauspielern nützt dir gar nichts.« Er verdrehte die Augen und ließ sich platt auf den Schuttberg fallen.

      Maria lachte schrill. »Du brauchst nicht mehr zu kommen, hat Pilz gesagt. Dafür wird er schon sorgen.«

      »Wird auch Zeit«, japste Koschka, der wieder aufgestanden war. »Juden in einer arischen Schule. Wo gibt’s denn so was?«

      Ilsa knuffte sie an der Schulter. »Hannah stört das nicht. Aus ihr wird doch eine Fliegerin.«

      »Ja«, rief Koschka. »Was denn, was denn?«, äffte er Pilz nach. Die Mädchen kicherten.

      »Ihr Vater holt sie mit seinem Flugzeug ab!«

      Die Jungen grölten.

      »Ihr werdet dumm schauen, wenn er kommt«, sagte Hannah. »Er muss viel arbeiten, ist immer unterwegs. Aber er kommt.«

      »Den gibt’s doch gar nicht«, widersprach Ilsa.

      »Und wie bin ich wohl zur Welt gekommen?«

      Aus dem Augenwinkel sah sie, dass Koschkas Freunde um den Schuttberg herum auf sie zukamen und sie einkreisten.

      »Du bist nichts weiter als ein jüdischer Unfall«, warf Kretz ein. Er war schon sechzehn und kannte sich mit Dingen aus, von denen Hannah nur eine vage Vorstellung hatte. Koschka folgte ihm wie ein fettes Hündchen. »Er hat dafür bezahlt, dass deine Mutter ihn mal rangelassen hat«, fuhr Kretz fort.

      »Das ist nicht wahr!« Hannah schossen Tränen die Augen.

      »Stimmt wohl«, beharrte Koschka. »Mein Vater sagt, die Malisha Bloch arbeitet in der Pagode beim Bahnhof. Man weiß ja, was da nachts los ist.«

      Die gefürchtete Schwärze raste heran, Hannahs Blickfeld verengte sich. Dass es so kurz hintereinander geschah, jagte ihr Angst ein. Vielleicht war sie wirklich verrückt, wie die Mädchen behaupteten. Alles begann, sich um sie zu drehen.

      Maria trat dicht an Hannah heran.

      »Du hast den Reichsminister Goebbels beleidigt. Dafür wird dich der schwarze Mann holen.«

      »An den glaubst du?« Hannah lachte, es klang eher wie ein Aufschluchzen. »Den gibt’s doch gar nicht.«

      »Ach nein?«, erwiderte Ilsa. »Und ob’s den gibt. Er trägt eine schwarze Uniform. Er fährt durch das Land und sucht die Kinder aus, die eine Meise haben.« Sie tippte sich an die Stirn. »An deiner Stelle hätte ich ganz schön die Hosen voll.«

      »Du spinnst ja.« Hannah drängte sich an dem blonden Mädchen vorbei, aber die beiden Jungen in ihren Uniformen traten ihr in den Weg. Sie schwankte und suchte Halt. Ihre Hand griff ins Leere.

      »Gleich kippt sie um.« Koschka torkelte gespielt, stolperte und fiel auf den Hosenboden.

      »Zeig mal, was du kannst.«

      Kretz warf einen abschätzenden Blick auf die Mauer. Sie war brüchig und etwa drei Meter hoch. Die anderen Jungen grinsten.

      »Ja, flieg uns was vor, verrückte Hannah!«, riefen sie im Chor.

      »Lasst mich in Ruhe.«

      Hannah drehte sich um und versuchte, den Jungen zu entkommen, die sie zur Ruine drängten. Ihr blieb keine Wahl, sie musste auf die frei liegenden Fundamente steigen. Vor ihr ragte die ehemalige Außenwand der Synagoge wie die Treppe eines Riesen in die Höhe.

      Koschka zog eine Holzlatte aus dem Schutt und stocherte nach Hannahs Beinen. Sie floh auf die nächste unregelmäßige Stufe. Bald konnte er sie mit der Latte nicht mehr erreichen und begann, mit Steinen nach Hannah zu werfen. Sofort beteiligten sich die anderen.

      Die meisten flogen an ihr vorbei, einer traf sie am Knie, ein zweiter an der Schläfe. Es tat weh, doch die Scham und die Angst waren schlimmer. Verzweifelt suchte sie Schutz und kletterte weiter die Mauer hinauf. Von hier oben war immer noch niemand auf dem Börneplatz zu sehen, niemand scherte sich um Jungen in HJ-Uniformen, die eine Jüdin mit Steinen bewarfen. Das scharfkantige Bruchstück eines Ziegelsteins traf sie an der Wade und hinterließ einen Riss, Blut quoll aus ihm hervor. Sie biss die Zähne zusammen und verbarg ihren Schmerz.

      Je höher Hannah stieg, desto mehr verstärkte sich die Finsternis an ihren Augenrändern und verengte СКАЧАТЬ