Die Unwerten. Volker Dützer
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Название: Die Unwerten

Автор: Volker Dützer

Издательство: Автор

Жанр: Контркультура

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isbn: 9783839263648

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СКАЧАТЬ denn, was denn?«, rief Pilz, »was gibt es denn so Wichtiges?«

      »Stimmt es, dass die Polizei den Mörder, der das arme deutsche Mädchen erwürgt hat, nur anhand seiner Schädelform überführen konnte?«

      Hannah warf ihm einen dankbaren Blick zu. Karl war einer der wenigen Schüler, die sie nicht ignorierten oder quälten. Sein Vater war Sozialdemokrat, seit vier Wochen fehlte von ihm jede Spur. Niemand sprach darüber.

      »Freilich, freilich«, antwortete Pilz. »Merkt euch, wie dienstbar die Wissenschaft sein kann. Der überzeugte Nationalsozialist ist bestrebt zu lernen und zu forschen. Minderwertige Rassen haben daran kein Interesse, sie sind den Ariern von Natur aus unterlegen.«

      Karls Trick, Pilz abzulenken, schien zu funktionieren. Er eilte mit energischen Schritten zu einem Ständer neben der Tür und enthüllte eine Schautafel. Hannah kannte die Bilder darauf auswendig. Sie zeigten Zeichnungen und Fotografien verschiedener menschlicher Köpfe, jeweils von vorne und der Seite dargestellt – manche waren rund wie Äpfel, andere länglich oder übertrieben in die Breite gezogen. Ein Linienraster bedeckte jedes Gesicht.

      Pilz erging sich in den Merkmalen der Schädelformen und deren Auswirkungen auf die Eigenschaften ihrer Besitzer. Auf das richtige Stichwort hin konnte es vorkommen, dass er eine Stunde lang über sein Lieblingsthema faselte.

      Die tief stehende Dezembersonne warf den kugelrunden Schatten seines Kopfes an die Wand. Ob ihm eigentlich bewusst war, dass sein eigener Schädel wenig Ähnlichkeit mit der Idealform der nordischen Rasse hatte, von der er so schwärmte?

      Karl nannte ihn ›Fliegen-Pilz‹. Pilz trug mit Vorliebe Fliegen – gepunktete, karierte oder gestreifte. Nur rot mussten sie sein.

      Als hätte er das Ablenkungsmanöver durchschaut, beendete er ganz gegen seine Gewohnheit nach wenigen Minuten seinen Vortrag und rollte die Schautafel zusammen.

      Hannahs Herz schlug schneller. Die Finsternis sickerte wie schwarze Tinte aus ihren Augenwinkeln und breitete sich aus, winzige Blitze zuckten darin. Durch einen Schleier sah sie Pilz zur Tafel schreiten, eine Hand auf dem Rücken, mit der anderen nahm er die Kreide auf.

      »Die Mathematik«, dozierte er, »die Mathematik ist die edelste aller Wissenschaften, denn sie ist in ihrer Klarheit überlegen wie die Willenskraft des Ariers über die Charakterschwäche der niederen Rassen.«

      Er schrieb eine neue Aufgabe an die Tafel. Seine Frage von vorhin schien er völlig vergessen zu haben. Oft sprang er von einem Gedanken zum nächsten, ohne dass die Klasse ihm folgen konnte.

      Die quietschende Kreide verursachte stechende Schmerzen in Hannahs Schläfen. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte, Pilz’ unleserliche Schrift zu entziffern.

      Er tippte auf die Buchstaben und las laut vor: »Ein Irrenhaus kostet zwei Millionen Reichsmark. Wie viele deutsche Familien könnten von dem Geld eine Wohnung bekommen?«

      Koschka kicherte.

      »Ruhe!«, brüllte Pilz.

      Hannah schwankte, alles drehte sich um sie. Die schrille Stimme bohrte sich wie eine Nadel in ihren Kopf. Jedes Scharren auf dem Dielenboden, die Ausdünstungen der dreißig Schüler in dem engen Klassenzimmer, das grelle Sonnenlicht, das durch die Fenster fiel, all das drang ungefiltert und überirdisch klar in ihren Verstand. Die Dunkelheit kam. Es gab nichts, was sie tun konnte, um sie aufzuhalten.

      »Nun, was denn, was denn? Zu schwierig für eine Jüdin?« Pilz schlenderte zu Brahmeyers Platz, dessen Vater SS-Standartenführer war, und beugte sich verschwörerisch zu ihm hinab. »Entschuldigung, Halbjüdin«, sagte er leise.

      Brahmeyer grinste und präsentierte eine Lücke zwischen den Schneidezähnen, die sein Gebiss seit der letzten Rauferei zierte.

      Hannah spürte das Unausweichliche kommen. Das aufziehende Gewitter in ihrem Kopf schränkte ihr Denken ein, bis sie die Worte nicht mehr kontrollieren konnte, die über ihre Lippen wollten. Worte, die sich nicht mehr zurückhalten ließen.

      Pilz klatschte mit gespielter Besorgnis in die Hände. »Nun, was denn? Was soll denn nur aus dir werden, Hannah?«

      »Hannah will fliegen«, krähte die blonde Ilsa.

      »Ja, fliegen. Hannah will fliegen«, riefen alle im Chor.

      Pilz wandte sich zu ihr um, seine Glatze glühte tiefrot im Sonnenlicht, die fleckige Haut verlieh ihm tatsächlich Ähnlichkeit mit einem Fliegenpilz.

      »Fliegen?« Er blickte sie verblüfft und mit unverhohlener Neugier an.

      Koschka sprang auf. »Hannah sagt, ihr Vater ist ein Flieger.«

      »Soso. Ja, was denn? Wo doch jeder weiß, dass die Juden lügen wie gedruckt. Sie hat keinen Vater, wisst ihr das denn nicht? Er ist davongelaufen, weil er sich schämt, dass er ein Kind mit einer Jüdin hat.«

      Die Klasse lachte schallend.

      Hannahs Lippen zitterten, ihre Kehle war so staubtrocken, dass sie nicht antworten konnte. Es hätte ohnehin keinen Sinn gemacht und ihre Qualen nur verlängert.

      »Nicht wahr, Sarah-Hannah?«

      Pilz wandte sich an die Klasse. »Und wie nennt man ein solches Kind? Na, was denn, was denn?«

      »Einen Bastard, Herr Lehrer!«, rief Koschka.

      Hannah blinzelte in den fahlgelben Ball, der vor den Fenstern am Himmel stand. Sie hatte das Gefühl, mit ihm zu schweben. Ein winziger Fleck in der Form eines heranfliegenden Flugzeugs verdunkelte ein Stück der Sonne. Der Propeller rotierte so schnell, dass er wie eine flirrende Scheibe auf sie zuraste.

      »Wie lautet also die korrekte Lösung der Aufgabe? Wie viele arische Familien könnten eine Wohnung besitzen?«

      Pilz’ Fistelstimme drang von weit her an Hannahs Ohr.

      »Es kommt auf die Anzahl der Zellen in dem Irrenhaus an«, sagte sie. »Und wie viele Pilze darin Platz haben.«

      Das Schreibheft entglitt ihren Fingern, dann war da plötzlich nur noch Dunkelheit.

      *

      Hannah erwachte auf dem Ohrensofa im Büro des Rektors. Sie öffnete die Augen und sah den hageren Mann mit dem schütteren Haar und den buschigen grauen Augenbrauen an seinem Schreibtisch sitzen. Er hielt den Telefonhörer in der Hand und steckte den Zeigefinger in die Wählscheibe.

      »Was ist passiert?«, fragte sie.

      Berthold sah auf. Als er bemerkte, dass sie wach war, legte er den Hörer auf die Gabel.

      »Du bist uns umgekippt, mein Kind. Hast du heute Morgen nichts gegessen?«

      Hannah versuchte, sich aufzurichten. Ihr war etwas schwindelig, aber die dunklen Flecken am Rand ihrer Wahrnehmung waren verschwunden.

      »Doch, das habe ich. Es geht mir wieder gut.«

      Berthold betrachtete sie sorgenvoll. Im Gegensatz zu Pilz mochte sie ihn. Er ging auf die siebzig zu und war bereits pensioniert. Weil viele Lehrkräfte von der Wehrmacht eingezogen worden waren, hatte er seinen Ruhestand unterbrochen. Berthold hatte ein sanftes Wesen und konnte komplizierte Zusammenhänge anschaulich erklären. СКАЧАТЬ