Название: Ebbe und Blut
Автор: Peter Gerdes
Издательство: Автор
Жанр: Триллеры
isbn: 9783839264782
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Aber der wollte eine Antwort. Wer ist gegen Windkraft, und zwar so, dass er zuschlägt? Tja, das war es eben. Die Naturschützer sollten dafür sein, von wegen saubere Energie. Aber viele von denen waren dagegen, weil die Windräder die Landschaft verschandelten und die Zugvögel bedrohten. Die Industrieverbände sollten dagegen sein, weil ihnen ins angestammte Geschäft gepfuscht wurde. Aber gerade in Ostfriesland boomte das Windrad-Geschäft, wurden florierende Firmen gegründet und Hunderte von Arbeitsplätzen geschaffen. Trotzdem konnte sich die Windkraft-Lobby nicht durchsetzen, weil die Tourismus-Lobby dagegen stand. Angeblich flohen die Touristen ja in Scharen, sobald sie nur ein Windrad zu Gesicht bekamen. Und die Tourismus-Industrie war mächtig in Ostfriesland. Und das war ja noch längst nicht alles. Je mehr man ins Detail ging, desto unübersichtlicher wurden die Frontverläufe. Viele Kleinbauern waren scharf darauf, so einen Quirl auf ihrem Land stehen zu haben und ein paar Hundert Euro Pacht monatlich einzusacken. Da hatte es viel Untergrundarbeit gegeben in den letzten Jahren, um an Baugenehmigungen zu kommen. Das wusste er ganz genau. Dass Neid und Rachsucht gute Motive waren, wusste er auch.
Etliche Landwirte mit mehr Klei an den Füßen, wie man so sagte, einflussreiche Großbauern darunter, hatten Windkraftanlagen in eigener Regie hochgezogen. Damit war es jetzt wohl vorbei. Der Trend ging zu größeren Parks mit fünfzig Anlagen und mehr, die natürlich von Großfirmen betrieben wurden. Zum Beispiel von Boelsen und seiner Bowindra. Wer da zu spät gekommen war, der konnte wohl neidisch werden. Und rachsüchtig.
Was die ganze Sache so lukrativ machte, war außerdem die Abnahmeverpflichtung. 8,7 Cent pro Kilowattstunde mussten die Energieversorger laut Gesetz an die Windrad-Betreiber zahlen, das waren fast viereinhalb Cent mehr, als der Strom aus anderen Kraftwerken kostete. Dabei würden knapp sieben Cent längst reichen, die technische Entwicklung war ja nicht zu stoppen, und die Windräder arbeiteten immer effektiver. Klar, dass die Versorger jetzt mit Strompreiserhöhungen drohten. Und damit war ja fast jeder Verbraucher ein potentieller Windrad-Gegner.
Rademaker dachte an all die Leute in Ostfriesland, die sich bis zum Hals verschuldet hatten für idiotisch große Häuser, im idiotischen Vertrauen darauf, dass sie auch im nächsten Jahr wieder genauso viele Überstunden machen und dass sie niemals krank werden würden. Tja, fleutjepiepen! Solchen Leuten könnte die Aussicht auf höhere Strompreise den Rest geben. Rademaker grinste. Früher hatte er selbst zu diesen Leuten gehört, heute hatte er sein Schäfchen im Trockenen.
Kornemann. Kornemann wollte Antworten. Rademaker nagte an seiner Unterlippe und gab Gas.
5
Ich bin übrigens ein sehr verschiedener Mensch«, sagte Ewald Thoben.
Lächeln tut er nicht, überlegte Nanno. Ich soll mir also etwas dabei denken. Er legte den Kopf in den Nacken und musterte den kräftigen Mann, der die Schwelle zum Alter erreicht hatte, sich aber eindeutig weigerte, sie zu überschreiten. Thobens kantiges Gesicht schien nur aus eingebrannten Falten zu bestehen, vor allem um die schmalen Augen herum. Ein Eindruck, der sich verstärkte, wenn der Kapitän lächelte.
Was er gerade jetzt aber nicht tat.
Nanno Taddigs kannte das Spielchen: Wer anders ist als die anderen und außerdem selbstbewusst, der provoziert. Dadurch erfährt er viel über sein Gegenüber, schnell und direkt. Zum Beispiel über seinen neuen Untermieter.
Nanno kannte natürlich auch die Gerüchte, die über Thoben in Umlauf waren. Ein Einzelgänger, kauzig, unberechenbar. Gefährlich sogar. Angeblich hatte er damals, als seine Frau gestorben war, auf den Notarztwagen geschossen. Der Doktor hätte keine Anzeige erstattet, weil ihm der Mann leid getan hatte, hieß es. Außerdem wurde erzählt, der Arzt sei ein Kurpfuscher, dem gehörte längst mal eins auf den Pelz gebrannt. Gut zwei Jahre war das nun her. Wenn’s denn so gewesen war.
»Genau genommen ist doch jeder verschieden«, sagte Nanno. »Doppelt verschieden sogar. Verschieden von allen anderen und verschieden von sich selbst. Niemand ist immer ganz derselbe.«
Thoben lächelte. »Seh’ ich auch so. Aber gut gesagt, Sie!« Er stand auf. »Dann will ich Ihnen mal die Butze zeigen.«
Nanno griff in die Räder, dirigierte sich hinter dem plüschdeckigen Esstisch hervor, gab Doppelschub und ließ seinen schmalen Sportrollstuhl schnell und exakt durch die aufgehaltene Tür sausen. Die Neunziggradkehre im Flur erzeugte ein leises Quietschen. Jeder hat so seine Methoden, dachte Nanno.
Falls der Kapitän von diesem Manöver beeindruckt war, so ließ er es sich nicht anmerken.
Von der Vorderküche, dem ostfriesischen Alltags-Esszimmer, ging es über den Flur, von dessen Wänden blau bemalte Kacheln leuchteten, Richtung Diele. Nirgendwo Türschwellen, registrierte Nanno. Und hinter der Tür, wo eigentlich die Diele hätte sein sollen, fing eine zweite Wohnung an. Komplett neu eingebaut oder höchstens ein paar Jahre alt. Extrabreite Türen. Nanno öffnete die erste rechts: ein Badezimmer mit sensationellen Abmessungen und allen Behinderten-Einrichtungen. Inklusive Wannenkran. Er kippte seinen Stuhl auf die Hinterräder, wirbelte herum und schaute den Kapitän an. Der wich seinem Blick aus. »Kommen Sie man mit nach achtern«, knurrte er und ging voraus ins Wohnzimmer. Zielsicher öffnete er eine Klappe der niedrigen Anrichte und griff nach deren einzigem Inhalt, einer grünlich schimmernden Flasche und zwei kleinen Gläsern.
Dass er den Kräuterschnaps ablehnte, nahm Thoben nicht krumm. Ein Punkt für ihn, dachte Nanno. Sein komplizierter Tagesablauf vertrug sich nun einmal nicht mit Alkohol. Und seine Selbstachtung auch nicht. Er konnte nicht begreifen, dass viele Fußgänger ihre Privilegien einfach wegwarfen, dass es Leute gab, die soffen und soffen, bis ihre gesunden Beine lahm waren. Er hatte sich geschworen, dass er das niemals begreifen würde, ganz egal, welche Rolle der Alkohol in seinem eigenen Früher gespielt hatte. Ein saufender Rolli machte sich selbst zum Säugling.
Der Kapitän trank, dann stellte er die Flasche unter den Tisch des kleinen Wohnzimmers, drehte das tulpenförmige Glas auf der Stelle und blickte hinein, während er erzählte. »Vor sechs Jahren ging das mit meiner Mutter los. War ja schon eine alte Frau. Da haben wir das alles bauen lassen, Platz war ja genug in der riesigen Diele. Damit sie klarkommt. Hier sollte eine Pflegerin wohnen können, falls meine Frau das nicht mehr schaffte. Wohnzimmer, Schlafzimmer, kleine Küche. Na, und eben das Bad. Aber vor drei Jahren ist Mutter dann gestorben.« Er schien nach der Flasche angeln zu wollen, legte seine linke Hand aber sofort wieder auf die Tischplatte und drehte weiter am Glas.
»Und dann ist meine Frau auch krank geworden, sofort hinterher. Musste auch in den Rollstuhl. Damals war ich ja schon zu Hause, bin nicht mehr gefahren. Ich wollte sie alleine pflegen. Da hab ich dann erst gemerkt, was das heißt, und wie das gewesen sein muss für sie, allein mit meiner Mutter, drei Jahre lang.« Er räusperte sich und richtete seinen Oberkörper auf. Seine Stimme klang wieder fester. »Vor zwei Jahren ist sie dann auch gestorben, ganz schnell. Und ich glaube heute noch, es hätte nicht sein müssen. Na ja. Erst wollte ich ja von dem ganzen Kram hier nichts mehr wissen. Vermieten sowieso nicht. Aber das ist natürlich Unsinn. Und als ich dann gehört habe, dass Sie suchen, hab ich gedacht, kannst ja mal was sagen.«
Nanno hatte Übung darin, Gefühle zu deuten. In den letzten sechs Jahren hatte er genügend falsche serviert bekommen. Er nickte: »Echt nett von Ihnen.«
Die Räume lagen rechts und links vom Flur, an dessen Ende eine breite Holztür in den Garten führte. »Da haben Sie Ihren eigenen Ausgang«, sagte Thoben. »Fester Plattenweg СКАЧАТЬ