Название: Musterbrecher
Автор: Dominik Hammer
Издательство: Bookwire
Жанр: Зарубежная прикладная и научно-популярная литература
isbn: 9783867742979
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Die Nutzung der in Organisationen vorhandenen kollektiven Intelligenz schien uns ein lange Zeit viel zu wenig beachteter strategischer Wettbewerbsvorteil zu sein. In unterschiedlichen methodischen Settings versuchten wir in den letzten Jahren, die besondere Wirkung der »Klugheit der vielen« zu nutzen. Schließlich sprechen Untersuchungen über Schwarmintelligenz dafür, sich mit dieser besonderen Form der Herstellung von Wissen auseinanderzusetzen. Zudem waren und sind wir davon überzeugt, dass vom Kollektiv getroffene und mitgetragene Entscheidungen ein Schmiermittel für das Funktionieren moderner Organisation sind.
Mit der digitalen Technik der vernetzten Livekommunikation gelang es immer – sowohl bei der Konferenz in Zürich als auch in anderen Settings –, hilfreiche Stimmungsbilder und Priorisierungen von Themen zu erzeugen. In diesem Sinne entstanden effiziente Varianten demokratischer Abstimmungsprozesse. Auch war das Kollektiv in der Lage, heikle Themen und Schwachstellen auf den Punkt zu bringen. Somit überzeugte der Schwarmansatz durch die erreichte Analysequalität. Schwarmtechnologie ist folglich eine ernst zu nehmende Alternative zu den herkömmlichen Befragungsprozeduren, weil sie schneller – in Echtzeit – zu Ergebnissen führt, die dann wiederum kommentiert und diskutiert werden können.
Als schwieriger erwies sich die Ideenentwicklung in den Gruppen, auch wenn die Aktivierung zum Dialog gelang.
Denn wir stellten häufig fest, dass die Ideen selten besonders stark waren. Vielmehr reihten sie sich in das bestehende Muster, in die vorhandenen Theorien, Überzeugungen und Interpretationen der Organisation ein. Die Ergebnisse waren hundertfach vorgedachte Gedanken. Die Erwartungen an Originalität und Fantasie wurden nicht erfüllt, wenngleich durchaus einige interessante Ansätze entwickelt wurden.
Also stellten wir uns Fragen: Warum sind wir häufig gemeinsam so unproduktiv, wo doch seit Jahrzehnten die Lehraktivitäten in Unternehmen, Schulen und Universitäten immer stärker am Teamgedanken ausgerichtet werden? Weshalb kann der Schwarm nur begrenzt als Vorbild dienen, wenn doch seit vielen Jahren unablässig seine Intelligenz beschworen wird? Sind wir vielleicht eher gemeinsam »schwarmdumm«, so wie es der Titel eines Buches von Gunter Dueck nahelegt? 24
Die amerikanische Juristin Susan Cain, Autorin des bemerkenswerten Buchs zur Rehabilitation der Stillen 25, liefert eine lakonische Antwort: »Manche Menschen wollen, dass wir eine Schwarmintelligenz entwickeln wie Ameisen. Wir sind allerdings keine Ameisen.« Mit dieser unzweifelhaft nachvollziehbaren Aussage wollen wir uns nicht zufriedengeben, sondern den Dingen weiter auf den Grund gehen. Allein schon deshalb, weil es einen Unterschied gibt zwischen den relativ neu entdeckten Schwärmen und den länger bekannten Gruppenphänomenen.26
Beginnen wir mit der Vorstellung vom Schwarm als einem größeren Kollektiv. Der Medienwissenschaftler Stefan Münker liefert eine Erklärung für unsere Beobachtung, dass ein Kollektiv dieser Größe nur eingeschränkt »starke« Ideen produziert. Seiner Einschätzung nach sind der Austausch von Argumenten und erster Lösungsansätze im gemeinsamen großen Rahmen wertvoll.27
Damit wirklich neue, andersartige Lösungen entstehen können, wird im Kollektiv auch zwingend individuelle Intelligenz benötigt.
In gleicher Weise äußert sich der schon erwähnte Praktiker Jaime Lerner. Der mehrfach wiedergewählte Bürgermeister von Curitiba in Brasilien sagte uns im Interview: »Menschen im Kollektiv zu befragen, hat durchaus einen Sinn. Aber es bedarf einer Idee oder einer Vision, an der man dann gemeinsam arbeiten, über die man nachdenken kann. Einfach ein Kollektiv zusammenzurufen und zu sagen: ›Jetzt findet mal Ideen!‹, das gibt nichts Neues, meist entsteht sogar Chaos.«
Doch wieso wird in Kollektiven die Fantasie gehemmt? Hören wir nicht ständig von der Kreativität der Massen und der schwindenden Wertschätzung des im Stillen sinnierenden Genies? Wie kommt es, dass durch elektronische Vernetzung, wie es im Arabischen Frühling oder bei den Protesten in Hongkong in beeindruckender Weise der Fall war, Revolutionen in Gang gesetzt und bestehende Systeme gestürzt beziehungsweise zumindest erschüttert werden – auf die Mobilisierung jedoch keine Neugestaltung erfolgt? Und was bedeutet es für eine digital vernetzte Welt, wenn wir in diesem Kollektiv zwar gemeinsam wortmächtig »meckern und motzen«, aber andererseits keine wirkliche gemeinsame Kreativität entwickeln können?
Der beobachtete Effekt könnte damit zu tun haben, dass soziale Einflüsse die Intelligenz eines Kollektivs negativ beeinflussen. Genau diese Störgrößen hat ein Forscherteam an der ETH Zürich experimentell unter die Lupe genommen.28 In einem Versuch wurden Studenten gebeten, vier Fragen zu beantworten. Es ging um Fakten, die in gewisser Weise bekannt waren, aber nur selten exakt benannt werden konnten. So wurde etwa nach der Länge der Grenzlinie zwischen der Schweiz und Italien gefragt. Es gab insgesamt fünf Durchläufe, in denen die Fragen jeweils unverändert gestellt wurden. In einer ersten Gruppe erhielten die Studenten fortwährend die Mittelwerte der Ergebnisse mitgeteilt, in der zweiten zusätzlich die Einzelwerte ihrer Kollegen. Interessanterweise lag die erste Gruppe deutlich näher an den richtigen Ergebnissen als die zweite. Daraus zogen die Forscher den Schluss, dass die zweite Gruppe gerade wegen der Kenntnis der Einzelwerte unterlag. »Es zeigte sich, dass die Antworten von 145 Befragten im Durchschnitt die besten waren, wenn keiner die Antworten der anderen kannte. Erfuhren die Probanden von den Schätzungen der anderen Studienteilnehmer, verschwanden die Extremwerte nach und nach. Die Schätzwerte kamen zwar einander näher, nicht jedoch dem tatsächlichen Wert.« 29
Die fast schon paradoxe Einsicht lautet: Man muss den sozialen Austausch in einem Kollektiv begrenzen, damit der Schwarm im positiven Sinne wirksam werden kann.
Andernfalls wird die »Konsensmaschinerie« in Gang gesetzt. Wertvolle nonkonforme Einzeleinschätzungen unterliegen dem sozialen Druck. Die Kraft sozialer Einflüsse ebnet dabei nicht nur deutlich abweichende Meinungen ein, sondern führt sogar dazu, dass man nicht mehr zu »gewussten« Eigenschaften steht, wie das folgende Experiment zeigt:
»Kinder bekamen Bilderbücher und sollten sagen, was sie auf den Bildern sehen. Die Kinder dachten, dass sie alle das gleiche Buch in der Hand halten, sie konnten aber in die Bücher der anderen nicht hineinschauen. Eines der Kinder, nur eines, hatte ein anderes Buch bekommen. Auf einer Seite des Buches war ein Bild seiner Mama oder seines Papas zu sehen. Bei den anderen Kindern zeigte diese Seite ein Tier, vielleicht einen Goldhamster. In 18 von 24 Versuchen passten sich die Kinder, die es besser hätten wissen müssen, der Mehrheit an. Sie sahen ein Bild ihrer Mutter und sagten wie alle anderen: ›Ich sehe einen Goldhamster‹.« 30 Wie die Autoren der Studie feststellen, gelte das Ergebnis der hier mit Kindern durchgeführten Untersuchung im Wesentlichen auch für Erwachsene.31
Wenn man mit einem gewissen Abstand zur anfänglichen Euphorie von vor etwa 15 Jahren die Publikationen zur Schwarmintelligenz und deren Übertragbarkeit auf Organisationen betrachtet, zeigt sich die Begrenztheit dieses Konzepts heute deutlich. Die Pheromonstraße der Ameisen oder den Schwänzeltanz der Bienen gibt es deshalb, weil die Insekten dadurch Futter oder die optimale Lage für einen neuen Stock finden. Sie verfügen alle über denselben instinktgesteuerten Algorithmus, der ihr Überleben sichert – das einzelne Insekt jedoch ist dumm. Man könnte auch sagen, es ist wesentlich von angeborenen Mustern gesteuert im Gegensatz zum Menschen, dessen Hirnverschaltungen erst durch die Art ihrer Nutzung »geknüpft, gefestigt und gebahnt werden«32. Das Gehirn von Insekten dagegen ist genetisch programmiert und weitestgehend determiniert. Allein deshalb ist es unzulässig, das auf gemeinschaftliches Überleben programmierte Verhalten von Schwärmen auf menschliches Individualverhalten zu übertragen, das permanent situativ angepasst wird.
Gehen wir also von der naheliegenden Annahme aus, dass menschliche Individuen klüger oder zumindest anders sind als Ameisen oder Bienen. Und nehmen wir ferner an, dass ein beträchtlicher Teil dieser klugen Menschen ganz vielfältige und unterschiedliche СКАЧАТЬ