Rosmarie lächelte und ließ das Buch sinken: »Nein, lieber Harro, du bist noch nicht müde.«
»Du auch nicht, Rose.«
»Nein, aber mir ahnt, daß man es werden könnte.« »Bist du trüb. Rose? Läßt du deine schönen seidenen Blätter hängen?«
»Nein, oh, noch lange nicht... Ich bin sehr mutig... und jede Stunde aufs neue bin ich mutig... Weißt du, es ist ein Kampf, es ist ein Kampf.«
»Alles ist ein Kampf.«
»Ach Lieber, mit dem armen Herzen...«
»Daran leidest du noch?«
»Schwester Johanna meint, ich sei sehr ungeduldig und verlange zu viel von mir. Nein, sieh mich nicht so traurig an. Sonst find' ich morgen noch mehr graue Haare, an denen ich schuld bin.«
»Oh, nun kommt der sanfteste aller Drachen; Schwester Johanna, muß ich vor Ihrem Angesicht fliehen?«
»O gewiß nicht, Herr Graf! Ich bringe nur die Honigmilch.«
»O Schwester,« scherzte Harro, »was tun wir ohne Sie?«
»Durchlaucht wird jemand haben müssen, Herr Graf, wenn ich fortgehe.«
»Vor allen fremden Menschen graue ich mich, wenn ich krank bin. Nein, Schwester Johanna, Sie waren gleich lieb und gut.«
Harro rief: »Sie werden aber selbst einsehen, daß Sie nicht zum zweitenmal in der Welt herumlaufen ... Und Sie dem Herrn Chef zu entführen, das ist unmöglich.«
Die Schwester errötet ein wenig. »Ich arbeite nun schon lange dort...« Und sie geht wieder, die Gute, Feine.
»Rosmarie, das ist eine halbe Freisprechung! Und es freut mich so viel. Du glaubst nicht, was es heißt für einen Mann in meinem Alter, wenn sich sein ganzes gewohntes Weltbild verändert. Plötzlich. Alles einen ganz neuen Horizont bekommt. Einen ungeheuren Horizont, Rosmarie. Und ich bin so ratlos. Ich sehe in die Bibel hinein und finde den alten Judengott, den alten Jahwe, und dann wieder den Kirchengott in euren protestantischen Kirchen.«
»Harro, willst du nicht mit dem Herrn Stiftsprediger sprechen? Er wird dich verstehen.«
»O du liebe, törichte Rose. Was kann einem auch der beste Kirchenmann helfen? Das muß man doch mit sich allein ausmachen. Und zurück kann ich auch nicht mehr in mein altes Leben. Dem sind die Fenster eingeschlagen und der wilde Sturm braust durch. Ich kann nicht mehr drin hausen. Ich habe zuerst geglaubt, ich müßte überhaupt aus allem heraus... aber nun fange ich doch an, zur Vernunft zu kommen. Wenn ich also doch einmal Gottes Geschöpf sein soll...«
»Ein Gedanke Gottes, Harro...«
»O Rose, wie du das sagst. Sieh, du hast gerade das, was eure Kirchenleute nicht haben, die alles so gewiß wissen und so hineinsehen in Gottes Erdenpläne und überall dabei waren. Und dann das Unbegreifliche, was mir stets so furchtbar war. Daß Gott seine Rache nimmt an dem einzigen Schuldlosen.«
»Ich möchte auch nicht meine Sünden auf ihn werfen. Das ist mir furchtbar, wenn ich das höre. Du weißt doch, daß ich ihn sehr liebe, Harro! Kein Mensch auf der ganzen Welt ist so viel geliebt worden wie er, das hat uns der Herr Stiftsprediger einmal gesagt. Und keiner hat so von jedem Geschlecht aufs neue entdeckt werden müssen.«
»Er hat mir immer entsetzlich leid getan, der einsame Jude in dem wirren alten Judenland. Wie sie an ihm herumtasten und oft gar keine Ahnung von ihm haben. Und sein fürchterliches Ende ... Von dem durch alle Vergoldung und Stilisierung noch der Schrei zu uns gedrungen ist – das Wort, mit dem dein grünes Buch aufhört, Rosmarie. – Wie das geschrieben ist! Sie muß wahnsinnig gewesen sein, als sie das schrieb... Ihre Buchstaben stürzen, gleiten, taumeln. Zuletzt sind's nur wilde Striche. Und so endet es. Meine arme Ahnfrau! In Nacht und Verzweiflung muß es untergegangen sein, das Herz.«
»O Harro, vielleicht ist sie ihm nachgegangen. Seinen Weg. Und der ist ja auch nicht in Nacht und Verzweiflung geblieben. Harro, du mußt ihn auch lieben lernen, dann bist du nicht mehr so allein in der Gotteswelt...«
»Woher weißt du, daß ich mich so grausam einsam fühle? Aber du hast dich auch vor mir verborgen, Rose. Von deinem Allerinnersten hast du mich doch nichts sehen lassen.«
»Ich durfte nicht, Harro ...«
»Du durftest nicht?«
»Ach weißt du, Harro, das blaue Männlein! Aber du kannst nicht sagen, daß ich gar nie versucht hätte, mit dir von diesen Dingen zu reden. Ich fing nur nicht gern an, und schüchtern war ich auch. Und dann sagtest du: Traumrose. Und ich sollte nicht noch mehr Mondschein werden, als ich schon sei. Und eine Heilige hättest du nicht geheiratet, das sei gegen den Ehekontrakt. Lieber Harro, ich glaube, es ist mir ganz gesund gewesen. Und wenn ich mit dir zu disputieren versuchte und du mit deinem alten Demiurgos daher kamst, dann hast du mich doch immer in zwei Minuten so klein bekommen, daß ich nicht mehr vor- und rückwärts wußte. Ein bißchen dumm bin ich ja von jeher gewesen!«
Harro hatte sie unverwandt angesehen. Wie sich ihr blasses Gesicht rötete und ihre Augen leuchteten und eine immer unsäglichere Lieblichkeit auf ihrem Antlitz aus ihr heraus blühte. Wie wenn sie ihm jetzt ihren letzten wunderbaren verborgensten Blütenkelch öffne. Und das gute kleine Lachen über sich selbst.
»Aber Harro, was versteint dich denn so? Man könnte dich meißeln. Hol zwei Spiegel, dann hast du eine Plakette von dir selbst!«
»Ich will noch mehr wissen... Du hast dich so zurückgestoßen gefühlt?«
»Nein, Harro, aber traurig war ich über meine Dummheit und dachte, wenn dich jetzt der Herr Stiftsprediger hörte, der müßte nicht so kläglich vor dir die Segel streichen. In dem grünen Buche stand auch eines Tages das rechte Wort und wartete, bis ich es fände.«
»Rose, die geistig Armen, die selig sein sollen... nicht wahr, mit denen kommst du mir nicht... Das Wort haben sie einem so verekelt, fürchterlich verekelt. Es riecht nach eingesperrter Luft, nach Stuben, in denen ich nicht aufrecht stehen kann, nach Schwellen, an denen ich mir die Stirn einstoße.«
»Das war es auch nicht, Harro... o sprich nicht so laut und sei nicht so wild, sonst kommt Schwester Johanna und holt dich. Nein, das war es gar nicht. Vielleicht verstehst du das Wort nur falsch... Es heißt: Wenn ich alle Weisheit und Erkenntnis hätte und hätte keine Liebe... Da war ich froh... Denn ich dachte, mein Kopf kann eng sein, und vielleicht bin ich froh, daß ich einen so klugen Mann habe, dem ich doch nie nachkomme. Aber mein Herz kann weit sein... Und da kann ich Kerzlein aufstecken... Einen ganzen Weihnachtsbaum voll... und eins entzündet sich am andern. Und wenn ein Winter kommt, und draußen ist's dunkel und die Sonne ist selten und hat nur den kurzen kleinen Weg, dann habe ich meinen Baum! Ach, Harro, daß wir ihn so bald brauchen würden, hab ich gar nicht gedacht. Und nun erst die wenigen armen paar Lichtlein... Harro, du versteinst schon wieder. Und nun braucht man meine Kerzen gar nicht mehr. Nun hast du das goldene Band in der Hand. Es blendet dich noch...«
Da kam die Schwester und Märt hinter ihr drein. Märt lachte über das ganze Gesicht und es ging eine eigene Feierlichkeit von ihm aus. Er hatte eine frische Schürze an und seinen Haaren sah man die Wasserbürste an.
»Durchlaucht wünschen СКАЧАТЬ