Название: Gesammelte Werke von Dostojewski
Автор: Федор Достоевский
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788027204205
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Er rückte ihr den Stuhl hin. Sonja setzte sich wieder, blickte dann wieder schüchtern und ängstlich nach den beiden Damen und schlug die Augen nieder.
Raskolnikows blasses Gesicht rötete sich; sein ganzes Wesen schien gleichsam einen Ruck zu bekommen; seine Augen flammten auf.
»Mama«, sagte er fest und nachdrücklich, »dies ist Sofja Semjonowna Marmeladowa, die Tochter eben jenes unglücklichen Herrn Marmeladow, der gestern vor meinen Augen überfahren wurde und von dem ich Ihnen schon erzählt habe …«
Pulcheria Alexandrowna blickte Sonja an und kniff dabei die Augen ein wenig zusammen. Obwohl Rodjas energischer, herausfordernder Blick sie einschüchterte, konnte sie sich dieses Vergnügen doch nicht versagen. Dunja sah ernst und forschend dem armen Mädchen gerade ins Gesicht und betrachtete sie mit Erstaunen. Als Sonja hörte, daß sie vorgestellt wurde, versuchte sie wieder aufzublicken, wurde aber noch verlegener als vorher.
»Ich wollte Sie fragen«, wandte sich Raskolnikow schnell zu ihr, »wie hat sich heute alles bei Ihnen gestaltet? Sind Ihnen keine Ungelegenheiten gemacht worden? … Zum Beispiel von Seiten der Polizei?«
»Nein, es ist alles ohne Störung gegangen … Die Todesursache war ja doch ganz klar; man hat uns keine Ungelegenheiten gemacht; nur die andern Mieter sind aufgebracht.«
»Warum?«
»Weil die Leiche so lange dasteht … Es ist doch jetzt heiß, da riecht es … Darum soll sie auch heute abend nach dem Friedhof gebracht werden und bis morgen in der Kapelle bleiben. Katerina Iwanowna wollte es zuerst nicht; aber jetzt sieht sie schließlich selbst ein, daß es nicht anders geht …«
»Also heute?«
»Sie bittet Sie, uns die Ehre zu erweisen, morgen dem Totenamte in der Kirche beizuwohnen und dann nach ihrer Wohnung zu kommen, zum Gedächtnismahl.«
»Also ein Gedächtnismahl veranstaltet sie?«
»Ja, nur einen kleinen Imbiß; sie läßt Ihnen sehr danken, daß Sie uns gestern unterstützt haben, … ohne Ihre Beihilfe hätten uns die Mittel zur Beerdigung gefehlt.«
Lippen und Kinn begannen ihr krampfhaft zu zucken; aber sie nahm sich zusammen und beherrschte sich; sogleich schlug sie wieder die Augen nieder.
Während des Gesprächs betrachtete Raskolnikow sie aufmerksam. Sie hatte ein außerordentlich mageres, blasses, etwas spitzes Gesichtchen, mit kleinem, spitzem Näschen und Kinn und ziemlich unregelmäßigen Zügen. Hübsch konnte man sie eigentlich nicht nennen; aber dafür waren ihre blauen Augen so klar und verliehen, wenn sie sich belebten, dem Gesichte einen so guten, treuherzigen Ausdruck, daß man sich unwillkürlich zu ihr hingezogen fühlte. Außerdem lag in ihrem Gesichte und in ihrer ganzen Gestalt noch eine besonders charakteristische Eigenheit: trotz ihrer achtzehn Jahre sah sie weit jünger aus, als sie wirklich war, beinahe wie ein Kind, und das trat manchmal bei bestimmten Bewegungen in einer geradezu komisch wirkenden Weise hervor.
»Hat denn Katerina Iwanowna mit einer so kleinen Summe alles bestreiten können, wenn sie sogar noch einen Imbiß zu geben beabsichtigt?« fragte Raskolnikow, eifrig bemüht, das Gespräch im Gange zu halten.
»Der Sarg ist ganz einfach, … und auch alles andere ist ganz einfach, so daß es nicht allzuviel kostet … Ich habe vorhin mit Katerina Iwanowna alles berechnet; es bleibt noch so viel übrig, um ein Gedächtnismahl zu veranstalten, … und Katerina Iwanowna wünscht so sehr, daß eines stattfinden möchte … Da müssen wir wohl … Ihr ist es ein Trost, … das liegt nun einmal so in ihrem Wesen, Sie wissen wohl …«
»Ich verstehe, ich verstehe … Gewiß … Warum mustern Sie denn mein Zimmer so? Meine Mama hier sagt auch, es sehe aus wie ein Sarg.«
»Sie haben uns gestern Ihr ganzes Geld gegeben!« sagte plötzlich, statt auf die Frage zu antworten, Sonja hastig in einem eigenartigen, lauten Flüstertone und senkte dann wieder den Kopf.
Lippen und Kinn zuckten ihr wieder. Raskolnikows ärmliche Behausung war ihr schon längst aufgefallen, und nun waren ihr diese Worte ganz unwillkürlich entschlüpft. Eine Weile schwiegen alle. Dunjas Augen hatten einen merkwürdigen Glanz bekommen; und Pulcheria Alexandrowna blickte Sonja ganz freundlich an.
»Rodja«, sagte sie aufstehend, »wir essen selbstverständlich zusammen zu Mittag. Komm, Dunja … Und du, Rodja, solltest ausgehen, einen kleinen Spaziergang machen und dich dann hinlegen und ein bißchen ausruhen; und dann komm recht früh … Ich fürchte, das Gespräch mit uns hat dich doch angegriffen …«
»Ja, ja, ich werde kommen«, antwortete er eilig und stand auf. »Aber ich habe allerdings noch etwas Notwendiges vorher zu besorgen …«
»Na, ihr werdet doch nicht der eine hier, der andre da Mittag essen?« rief Rasumichin und sah Raskolnikow verwundert an. »Was hast du denn?«
»Ich sage ja, ich werde kommen, gewiß, gewiß … Aber bleib du noch einen Augenblick hier. Sie brauchen ihn ja doch wohl im Augenblick nicht, Mama? Oder entziehe ich ihn euch vielleicht?«
»O nicht doch, nicht doch! Kommen Sie doch auch mit zum Mittagessen, Dmitrij Prokofjitsch, wollen Sie so gut sein?«
»Bitte, kommen Sie!« bat auch Dunja.
Rasumichin verbeugte sich zusagend und strahlte über das ganze Gesicht. Eine wunderliche Verlegenheit überkam alle für einen Augenblick.
»Adieu, Rodja, oder lieber: Auf Wiedersehen! Ich sage nicht gern ›Adieu‹. Adieu, Nastasja … Ach, da habe ich ja doch wieder ›Adieu‹ gesagt!« sagte Pulcheria Alexandrowna.
Sie war nahe daran, auch Sonja eine Verbeugung zu machen; aber sie brachte es doch nicht fertig und ging eilig aus dem Zimmer.
Aber Dunja wartete, bis die Reihe, herauszugehen, an sie kam, und als sie hinter der Mutter an Sonja vorbeiging, machte sie ihr eine freundliche, höfliche und ordnungsmäßige Verbeugung. Die arme Sonja wurde verlegen und verbeugte sich hastig und erschrocken; auf ihrem Gesichte spiegelte sich sogar eine Art von schmerzlicher Empfindung wieder, als ob Dunjas Höflichkeit und Freundlichkeit ihr drückend und peinlich wären.
»Adieu, Dunjetschka!« rief Raskolnikow, als diese schon auf dem Flur war. »Gib mir doch die Hand!«
»Ich habe sie dir doch gegeben; hast du das schon vergessen?« antwortete Dunja freundlich und drehte sich mit dem Oberkörper noch einmal nach ihm um.
»Nun, das schadet ja nichts; so reich sie mir noch einmal!«
Er drückte kräftig ihre feinen Fingerchen. Dunja lächelte ihm zu, errötete, entriß ihm schnell ihre Hand und lief der Mutter nach; auch sie fühlte sich auf einmal ganz glücklich.
»Nun schön!« sagte er zu Sonja, als er in sein Zimmer zurücktrat, und blickte sie mit klaren Augen an. »Gott gebe den Toten eine sanfte Ruhe; aber die Lebenden mögen leben! Nicht wahr? Nicht wahr? Das ist doch das Richtige!«
Mit Erstaunen sah Sonja, wie sein Gesicht plötzlich hell geworden war; er schaute sie einige Augenblicke schweigend und unverwandt an; alles, was ihr verstorbener Vater über sie erzählt hatte, kam ihm wieder ins Gedächtnis.
»Herrgott, Dunja!« begann Pulcheria Alexandrowna, sowie sie auf die Straße hinaustraten. »Ich bin ordentlich froh, daß СКАЧАТЬ