Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher. Стендаль
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Название: Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher

Автор: Стендаль

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9788026824862

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СКАЧАТЬ können, wie sich Anno 1793 siebzehn Träger seines Namens wie die Schafe gefangennehmen ließen, um auf die Guillotine geschleppt zu werden? Der Tod war ihnen sicher, aber es galt für unschicklich, sich zu wehren und wenigstens noch einen oder zwei Jakobiner niederzuschlagen. Ach, lebten wir in einer Heldenzeit, so führte Julian ein Fähnlein Reiter, und Norbert wäre Priester und regelrechter Verkünder von Sittsamkeit und Alltagsweisheit…«

      Noch vor wenigen Monaten hatte Mathilde daran gezweifelt, je einen Menschen zu finden, der von der allgemeinen Schablone einigermaßen abwich. Es war ihr ein gewisser Genuß gewesen, den jungen Herren ihres Kreises Briefe zu schreiben. Für eine junge Dame war das eine kecke Verletzung der Schicklichkeit, deren Bekanntgabe sie in den Augen des alten Herrn von Croisenois geradezu entehrt hätte. Damals konnte sie an den Tagen, wo sie einen Brief abgeschickt hatte, nachts nicht schlafen. Und doch waren das nur Antworten gewesen. Jetzt hatte sie es gewagt, von ihrer Liebe zu schreiben! Sie hatte (entsetzlich!) zuerst an einen Menschen geschrieben, der gesellschaftlich tief unter ihr stand. Wenn das an den Tag kam, war sie auf ewig in Verruf. Keine der Damen, die mit ihrer Mutter verkehrten, würde dies entschuldigen. Sprechen galt schon fast für unschicklich. Aber schreiben! Napoleon hat einmal gesagt (als er die Kapitulation von Baylen erfuhr): » Es gibt Dinge, die man nicht schreibt!« Und gerade diesen Ausspruch hatte Julian ihr gelegentlich erzählt, gleichsam zur Belehrung im voraus.

      Aber über dies hinaus hatte Mathildens Furcht noch andre Ursachen. An die schlimmen Folgen ihrer Handlung in gesellschaftlicher Hinsicht, an die unheilbare Schande und die allgemeine Verachtung, die ihr da drohten (denn sie hatte ihre Kaste beschimpft!), dachte sie gar nicht. Sie dachte nur daran, daß sie es mit einem Ausnahmemenschen zu tun hatte.

      Julian hatte einen unergründlichen, geheimnisvollen Charakter. Mit ihm in oberflächliche Beziehung zu kommen, war schon schrecklich. Und jetzt stand Mathilde im Begriffe, ihn zu ihrem Geliebten zu machen, vielleicht zu ihrem Herrn und Gebieter!

      »Was wird er alles beanspruchen, wenn er alle Macht über mich hat?« fragte sie sich. »Mag es werden, wie es will! Mit Medea werde ich sagen: Inmitten aller Gefahren habe ich immer noch mich!«

      Sie bildete sich ein, Julian habe keine Achtung vor dem Begriffe Adel des Blutes. Ja, sie glaubte nicht einmal, daß er sie wirklich liebe.

      Gegen diesen letzten qualvollen Zweifel empörte sich ihr weiblicher Stolz. Unduldsam rief sie aus: »Im Schicksal eines Mädchens, wie ich eins bin, muß alles einzigartig und seltsam sein!« Jetzt rang der Hochmut, der ihr von frühester Kindheit anerzogen war, mit der wahren Weibestugend.

      So standen die Dinge, als Julians Abreise die plötzliche Entscheidung brachte. Spät am Abend war Julian so teuflisch, einen schweren Koffer zum Pförtner hinunterschaffen zu lassen. Damit beauftragte er einen Diener, der mit Mathildens Kammerjungfer zarte Beziehungen hatte.

      »Ich weiß nicht, ob dieses Manöver Erfolg hat«, sagte sich Julian. »Aber wenn es ihn hat, so glaubt sie, ich sei abgereist.«

      Höchst vergnügt über diese Farce schlief er ein. Mathilde schloß die ganze Nacht kein Auge.

      Am andern Morgen verließ er frühzeitig und unbemerkt das Haus. Kurz vor acht Uhr kehrte er wieder. Kaum war er in der Bibliothek, da erschien Fräulein von La Mole in der Tür. Julian überreichte ihr seine Antwort. Er dachte, es sei seine Pflicht, auch ein paar Worte zu sagen. Zum mindesten bot sich die Gelegenheit dazu. Aber Mathilde hatte keine Lust, ihn anzuhören, und verschwand. Julian war darob hocherfreut. Er hätte ihr nichts zu sagen gewußt.

      »Wenn hinter dem allem nicht ein abgekartetes Spiel zwischen ihr und Norbert steckt«, kalkulierte Julian, »so müssen meine kalten Blicke die Ursache der bizarren Verliebtheit sein, die dieses hohe Edelfräulein für mich zu verspüren geruht. Ich wäre dümmer, als es erlaubt ist, wenn ich mich jemals dazu hinreißen ließe, an dieser großen blonden Puppe Geschmack zu finden.«

      Diese Überlegung machte ihn kühler und mathematischer denn je.

      »In der Schlacht, die sich entwickelt«, dachte er weiter, »wird Mathildens Adelsstolz die Bedeutung einer dominierenden Höhe haben. Um diesen Punkt werden wir fechten. Es ist ein strategischer Fehler auf meiner Seite, in Paris zu verbleiben. Wenn alles nur Spiel ist, setzt mich der Aufschub der Reise in Nachteil und Gefahr. «Wäre ich abgereist, was hätte ich dabei riskiert? Ich hätte mich über meine Gegner lustig gemacht, wenn sie sich über mich lustig machen. Angenommen aber, Mathildens Neigung zu mir sei keine Komödie, so hätte ich sie verhundertfacht.«

      Mathildens Brief hatte ihm derart stark die Freude der Eitelkeit zuteil werden lassen, daß er vor lauter Lust nicht daran gedacht hatte, die Zweckmäßigkeit einer Reise gründlich zu erwägen. Es war nun aber ein verhängnisvolles Element seines Charakters, daß er gegen sich selbst wegen begangener Fehler grenzenlos nachträglich war. Darum ärgerte ihn dieser Fehler dermaßen, daß er den erstaunlichen Sieg, der seiner kleinen Niederlage vorangegangen war, so gut wie gänzlich vergaß. In diesem Moment, gegen neun Uhr vormittags, erschien Fräulein von La Mole abermals auf der Schwelle der Bibliothekstüre, warf ihm einen zweiten Brief zu und entschwand wieder.

      »Das wird offenbar ein Roman in Briefen!« lachte Julian und hob den eben gekommenen auf. »Der Feind macht eine Scheinbewegung. Ich werde den kalten Tugendbold markieren!«

      Im Briefe ward um eine entscheidende Antwort gebeten, und zwar in einer schmerzlichen Art, die seiner Seele Heiterkeit erhöhte. Er machte sich den Spaß, die Personen, die ihn (seiner Vermutung nach) zum Narren hielten, in einer zwei Seiten langen Antwort zu mystifizieren. Am Schlüsse zeigte er mit einer scherzhaften Wendung seine Abreise für den nächsten Morgen an. Als der Brief geschrieben war, sagte er sich: »Ich kann ihn ihr im Garten geben«, und ging hinab.

      Er blickte nach Mathildens Fenster. Ihr Zimmer war neben den Gemächern ihrer Mutter, im ersten Stock, unter dem sich ein Zwischenstock befand. Als Julian, den Brief in der Hand, die Lindenallee betrat, die am Hause begann, war er von Mathildens hochgelegenem Fenster aus nicht zu sehen. Das Blätterwerk der alten sorgfältig beschnittenen Bäume vereitelte es.

      »Unglaublich!« sagte sich Julian ärgerlich. »Schon wieder unüberlegt! Wenn man sich einen Scherz mit mir leistet, so muß ich meinen Feinden schon den Spaß machen, mit einem Briefe in der Hand aufzutauchen!«

      Norberts Zimmer lag genau über dem seiner Schwester. Sobald Julian unter dem Deckung bietenden Laubdache der Lindenallee hervorkam, trat er in das Gesichtsfeld seiner vermutlichen Gegner, des Grafen Norbert und seiner Kameraden.

      Fräulein von La Mole zeigte sich hinter den Scheiben ihres Fensters. Er ließ seinen Brief flüchtig sehen. Sie nickte. Julian ging in das Haus zurück und begegnete der schönen Mathilde wie zufällig auf der Haupttreppe. Ihre Augen lachten, als sie behend den Brief ergriff.

      »Welche Leidenschaft glühte in den Augen der lieben Frau von Rênal, wenn sie einen Brief von mir in Empfang zu nehmen wagte, selbst noch, als unsre Beziehungen bereits ein halbes Jahr vertraut waren«, dachte Julian bei sich, als er in sein Zimmer hinaufging. »Ich glaube, sie hat mich kein einziges Mal mit lachenden Augen angesehen.«

      Über das, was er fernerhin dachte, ward er sich nicht so klar wie hierüber. Vielleicht schämte er sich, daß kleinliche Motive darin auftauchen könnten. »Aber wie anders ist Mathilde in ihrer eleganten Morgenkleidung und in ihrem ganzen Wesen. Auf dreißig Schritt Entfernung sieht ihr jeder Kenner ihren gesellschaftlichen Rang an. Das ist ein unleugbarer Vorzug an ihr.«

      Trotz all seiner Ironie war Julian vor sich selber noch nicht ganz ehrlich. Frau von Rênal hatte ihm keinen Marquis von Croisenois zu opfern gehabt. Bei ihr hatte er als Nebenbuhler nur den unnoblen Landrat Charcot, der sich »von Maugiron« nannte, dieweil die Maugirons ausgestorben sind.

      Um fünf Uhr erhielt Julian einen dritten СКАЧАТЬ