Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher. Стендаль
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Читать онлайн книгу Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher - Стендаль страница 6

Название: Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher

Автор: Стендаль

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9788026824862

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СКАЧАТЬ Nutzen sei, wenn er aus Scheinheiligkeit in der Kirche Station machte.

      Scheinheiligkeit! Welche umständliche seelische Entwicklung gehört dazu, ehe ein Bauernkind solch ein abscheuliches Wort bewußt gebraucht!

      Als kleiner Junge hatte Julian sechste Dragoner gesehen, in langen weißen Reitermänteln, mit großen schwarzen Haarbüschen auf den Helmen. Sie kamen auf ihrem Rückmarsch aus der Lombardei durch die Stadt, und etliche halfterten ihre Pferde am Fenstergitter seines Vaterhauses an. Dieser Anblick hatte den kleinen Julian für den Soldatenberuf begeistert. Später lauschte er voll Entzücken dem alten Stabsarzte, wenn er ihm von den Schlachten bei Arcole, Lodi und Rivoli erzählte. Die glühenden Blicke, die der alte Mann auf sein Ehrenkreuz warf, vergaß er nie.

      Aber als Julian vierzehn Jahre alt war, wurde in Verrières eine Kirche erbaut, die in einem so kleinen Ort für prunkvoll gelten konnte. Besonders staunte er vier Marmorsäulen an. Sie wurden in der ganzen Gegend berühmt, denn sie waren der Anlaß der Todfeindschaft zwischen dem Ortsrichter und dem aus Besançon herversetzten jungen Vikar, der als Spion der Jesuiten galt. Der Ortsrichter hätte beinahe seinen Posten verloren – wenigstens war dies die allgemeine Meinung –, weil er es gewagt, in Zwist mit einem Priester zu geraten, der fast alle vierzehn Tage nach Besançon, offenbar zum Herrn Bischof, fuhr.

      In der Folge hatte der Ortsrichter, Vater einer zahlreichen Familie, mehrere Urteile gefällt, die man als Ungerechtigkeit auffaßte, und zwar samt und sonders zuungunsten von Leuten, die den Constitutionnel, das Blatt der Liberalen, lasen. Die sogenannte gute Sache hatte also gesiegt! Es handelte sich bei besagten Urteilen allerdings nur um geringfügige Strafen, um ein paar Franken, aber eine dieser Entscheidungen traf einen Paten Julians, einen Nagelschmied. In seinem Zorn rief der Mann aus: »Ja, ja, die Zeiten haben sich geändert. Zwei Jahrzehnte hindurch galt uns der Ortsrichter als anständiger Mann!«

      Julians Freund, der alte Stabsarzt, war tot. Urplötzlich hörte Julian auf, von Napoleon zu reden. Jetzt erklärte er die Absicht, Priester zu werden. Alsbald sah man ihn beständig in der Schneidemühle seines Vaters beim Auswendiglernen einer lateinischen Bibel, die ihm der Pfarrer geliehen hatte. Verwundert über die Fortschritte des jungen Menschen, verbrachte der alte Mann manchen langen Abend mit ihm, um ihn in der Theologie zu unterweisen. Julian offenbarte ihm nur fromme Regungen. Kein Mensch konnte ahnen, daß dieser bleiche, zarte, mädchenhafte Bursche den unerschütterlichen Vorsatz in sich trug, tausendmal sein Leben zu riskieren, wenn er nur sein Glück machte.

      Sein Glück machen! Das hieß zunächst, aus Verrières hinauskommen. Er haßte seine Heimat. Alles, was er daselbst sah, hemmte sein phantastisches Innenleben.

      Von klein auf hatte er Augenblicke höchster Erregung gehabt. In Wonnen träumte er sich aus, wie er eines Tages die Bekanntschaft hübscher Pariserinnen machen werde, nachdem er ihre Aufmerksamkeit durch eine außerordentliche Tat auf sich gezogen. Warum sollte er nicht von einer von ihnen geliebt werden, wie Bonaparte, noch arm, von der wunderschönen Frau von Beauharnais geliebt worden war? Schon viele Jahre lang war auch nicht eine Stunde verronnen, in der Julian nicht vor Augen gehabt, daß sich Bonaparte, der unbekannte mittellose Artillerieleutnant, durch seinen Degen zum Herrn der Welt gemacht hatte. Der eine Gedanke tröstete ihn in all seinem Ungemach, das er für ein großes Unglück hielt, und durchsonnte die Freuden, die ihm bisweilen zuteil wurden.

      Der Kirchenbau und die Urteile des Ortsrichters waren die Ursache, daß es ihm mit einem Schlage wie Schuppen von den Augen fiel. Diese Erleuchtung machte ihn wochenlang toll und durchflammte ihn schließlich mit jener Allgewalt, die die erste selbstgefundene Idee in einer leidenschaftlichen Seele erzeugt.

      Er sagte sich: »Als Bonaparte aus dem Dunkel hervortrat, stand Frankreich vor dem Einmarsch der fremden Mächte. Das Soldatentum war notwendig und Mode. Heutzutage sieht man Priester, die mit vierzig Jahren ein Einkommen von hunderttausend Franken haben. Das ist dreimal mehr, als die weltberühmten Divisionsgenerale Napoleons bezogen. Die Priester brauchen Helfershelfer. Da ist zum Beispiel dieser Ortsrichter, ein heller Kopf und bisher ein Ehrenmann – aber auf seine alten Tage entehrt er sich aus Angst vor einem jungen Vikar von dreißig Jahren! Ja, heutzutage muß man Pfaffe werden!«

      Einmal freilich verriet sich Julian trotz aller seiner neuen Frömmigkeit, nachdem er bereits zwei Jahre Gottesgelehrter war, durch einen jähen Ausbruch der Glut, die seine Seele heimlich verzehrte. Es war im Hause des Pfarrers Chélan bei einem Priestermahle. Der gute Pfarrer hatte ihn als seinen Musterschüler vorgestellt; da hatte er das Mißgeschick, von Napoleon schwärmerisch zu reden. Zur Strafe und Buße band er sich den Arm in eine Binde, behauptete, er hätte sich ihn beim Wälzen eines Fichtenstammes ausgerenkt, und trug ihn acht Wochen lang in dieser unbequemen Lage. Nach dieser Selbsttortur verzieh er sich.

      So war der neunzehnjährige Bursche, den man ob seines schwächlichen Aussehens kaum siebzehn Jahre alt schätzte. Sein kleines Bündel unterm Arme, betrat er die prächtige Kirche von Verrières. Sie war dunkel und menschenleer. Eines Kirchfestes wegen waren sämtliche Fenster des Schiffes mit scharlachrotem Tuch verhängt. An der Sonnenseite schimmerte Licht dahinter und schuf eine feierliche weihevolle Stimmung. Den einsamen Julian durchschauerte es. Er ließ sich auf der Kirchenbank nieder, die ihm am vornehmsten aussah. Sie trug das Wappen des Herrn von Rênal. Auf dem Brett für das Gebetbuch lag ein Stück bedrucktes Papier, das merkwürdig auffällig war. Sein Blick fiel darauf, und er las:

      »Einzelheiten von der Hinrichtung und den letzten Augenblicken Ludwig Jenrels, enthauptet zu Besançon am …«

      Das Weitere war abgerissen. Auf der Rückseite standen die Anfangsworte einer Zeile:

      »Der erste Schritt…«

      »Wer mag das Papier hierhin gelegt haben?« fragte sich Julian. »Armer Teufel!« dachte er und seufzte auf. »Sein Name hat dieselbe Endsilbe wie meiner.«

      Er knüllte das Papier zusammen.

      Beim Wiederhinausgehen kam es Julian vor, als seien Blutflecke am Weihwasserbecken. Es war der Widerschein der Fensterbehänge, der ein paar übergespritzte Wassertropfen blutrot färbte. Da schämte er sich seiner geheimen Angst.

      »Bin ich ein Feigling?« fragte er sich. »An die Gewehre!«

      Dies Kommandowort, das in den Kriegserinnerungen des alten Stabsarztes eine große Rolle gespielt hatte, war für Julian ein Symbol des Heldentums. Er machte sich auf und ging raschen Schritts nach dem Rênalschen Hause.

      Aber so tapfer er sein wollte, er wurde doch beim Anblick des Gebäudes von unüberwindlicher Scheu befallen. Die Gittertür des Vorgartens stand offen. Sie kam ihm prunkvoll vor. Um zur Haustür zu gelangen, mußte er hindurch.

      6. Kapitel

      Übrigens war es nicht allein Julian, der in Aufregung war. Die überaus zarte und scheue Frau von Rênal befand sich in der größten Unruhe, seit sie wußte, daß ein Fremdling fortan befugtermaßen zwischen ihr und ihren Kindern stehen sollte. Sie war daran gewöhnt, daß sie mit den drei Jungen zusammen in einem Zimmer schlief. Am Vormittag, als die drei kleinen Betten in das Zimmer getragen wurden, das nunmehr der Erzieher bewohnen sollte, waren viel Tränen geflossen. Vergebens bat sie ihren Mann, wenigstens das Bett von Stanislaus-Xaver in ihrem Schlafzimmer zu lassen.

      Die weibliche Empfindsamkeit war in Frau von Rênal übertrieben entwickelt. Sie machte sich von dem künftigen Hauslehrer das widerlichste Bild, indem sie sich einen groben schlechtgepflegten Gesellen vorstellte, der den Auftrag hätte, ihre Kinder zu malträtieren, und dies aus keinem andern Grunde, als weil er Latein verstand, eine wildfremde unnütze Sprache.

      Mit der behenden Grazie, die ihr eigen war, sobald sie sich unbeobachtet fühlte, war Frau von Rênal eben durch die Glastür des nach dem Vorgarten zu gelegenen Salons ins Freie getreten, da bemerkte sie am Tor einen СКАЧАТЬ