Название: Gesammelte Werke von Gustave Flaubert
Автор: Гюстав Флобер
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788027209903
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Er war dermaßen aufgeregt, daß er Lateinisch sprach. Er hätte Chinesisch oder Grönländisch gesprochen, wenn er das gekonnt hätte. Denn er befand sich in einem Seelenzustand, in dem der Mensch sein geheimstes Ich ohne Selbstkritik enthüllt, wie das Meer, das sich im Sturm an seinem Gestade bis auf den Grund und Boden öffnet.
Er predigte immer weiter:
»Ich fange an, es furchtbar zu bereuen, daß ich dich in mein Haus genommen habe. Ich hätte besser getan, dich in dem Elend Und dem Schmutz stecken zu lassen, in dem du geboren bist! Du wirst niemals zu etwas Besserem zu gebrauchen sein als zum Rindviehhüten. Zur Wissenschaft hast du kein bißchen Talent! Du kannst kaum eine Etikette aufkleben. Und dabei lebst du bei mir wie der liebe Gott in Frankreich, wie ein Hahn im Korb, und läßt dirs über die Maßen wohl gehn!«
Emma wandte sich an Frau Homais:
»Man hat mich hierher gerufen….«
»Ach, du lieber Gott!« unterbrach die gute Frau sie mit trauriger Miene. »Wie soll ichs Ihnen nur beibringen?… Es ist nämlich ein Unglück passiert….«
Sie kam nicht zu Ende. Der Apotheker überschrie sie:
»Hier! Leer ihn wieder aus! Mache ihn wieder rein! Bring ihn wieder an Ort und Stelle! Und zwar fix!«
Er packte Justin beim Kragen und schüttelte ihn ab. Dabei entfiel Justins Tasche ein Buch.
Der Junge bückte sich, aber Homais war schneller als er, hob den Band auf und betrachtete ihn mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund.
»Liebe und Ehe«, las er vor. »Aha! Großartig! Großartig! Wirklich nett! Mit Abbildungen!… Das ist denn doch ein bißchen starker Tobak!«
Frau Homais wollte nach dem Buche greifen.
»Nein, das ist nichts für dich!« wehrte er sie ab.
Die Kinder wollten die Bilder sehn.
»Geht hinaus!« befahl er gebieterisch.
Und sie gingen hinaus.
Eine Weile schritt er zunächst mit großen Schritten auf und ab, das Buch halb geöffnet in der Hand, mit rollenden Augen, ganz außer Atem, mit rotem Kopfe, als ob ihn der Schlag rühren sollte. Dann ging er auf den Lehrling los und stellte sich mit verschränkten Armen vor ihn hin:
»Bist du denn mit allen Lastern behaftet, du Unglückswurm? Nimm dich in acht, sag ich dir, du bist auf einer schiefen Ebene! Hast du denn nicht bedacht, daß dieses schändliche Buch meinen Kindern in die Hände fallen konnte, den Samen der Sünde in ihre Sinne streuen, die Unschuld Athaliens trüben und Napoleon verderben? Er ist kein Kind mehr! Kannst du wenigstens beschwören, daß die beiden nicht darin gelesen haben? Kannst du mir das schwören?«
»Aber so sagen Sie mir doch endlich,« unterbrach ihn Emma, »was Sie mir mitzuteilen haben!«
»Ach so, Frau Bovary: Ihr Herr Schwiegervater ist gestorben!«
In der Tat war der alte Bovary vor zwei Tagen just nach Tisch an einem Schlaganfall verschieden. Aus übertriebener Rücksichtnahme hatte Karl den Apotheker gebeten, seiner Frau die schreckliche Nachricht schonend mitzuteilen.
Homais hatte sich die Worte, die er sagen wollte, genauestens überlegt und ausgeklügelt – ein Meisterwerk voll Vorsicht, Zartgefühl und feiner Wendungen. Aber der Zorn hatte über seine Sprachkunst triumphiert.
Emma verzichtete auf Einzelheiten und verließ die Apotheke, da Homais seine Strafpredigt wieder aufgenommen hatte, während er sich mit seinem Käppchen Luft zufächelte. Allmählich beruhigte er sich jedoch und ging in einen väterlicheren Ton über:
»Ich will nicht sagen, daß ich dieses Buch gänzlich ablehne. Der Verfasser ist Arzt, und es stehen wissenschaftliche Tatsachen darin, mit denen sich ein Mann vertraut machen darf, ja die er vielleicht kennen muß. Aber das hat ja Zeit! Warte doch wenigstens, bis du ein wirklicher Mann bist!«
Als Emma an ihrem Hause klingelte, öffnete Karl, der sie erwartet hatte, und ging ihr mit offenen Armen entgegen.
»Meine liebe Emma!«
Er neigte sich zärtlich zu ihr hernieder, um sie zu küssen. Aber bei der Berührung ihrer Lippen mußte sie an den andern denken. Da fuhr sie zusammenschaudernd mit der Hand über das Gesicht:
»Ja…ich weiß…ich weiß….«
Er zeigte ihr den Brief, worin ihm seine Mutter das Ereignis ohne jedwede sentimentale Heuchelei berichtete. Sie bedauerte nur, daß ihr Mann ohne den Segen der Kirche gestorben war. Der Tod hatte ihn in Doudeville auf der Straße, an der Schwelle eines Restaurants, getroffen, wo er mit ein paar Offizieren a.D. an einem Liebesmahl teilgenommen hatte.
Emma reichte Karl den Brief zurück. Bei Tisch tat sie aus konventionellem Taktgefühl so, als hätte sie keinen Appetit. Als er ihr aber zuredete, langte sie tapfer zu, während Karl unbeweglich und mit betrübter Miene ihr gegenüber dasaß.
Hin und wieder hob er den Kopf und sah seine Frau mit einem traurigen Blick an. Einmal seufzte er:
»Ich wollt, ich hätte ihn noch einmal gesehen!«
Sie blieb stumm. Weil sie sich aber sagte, daß sie etwas entgegnen müsse, fragte sie:
»Wie alt war dein Vater eigentlich?«
»Achtundfünfzig!«
»So!«
Das war alles.
Eine Viertelstunde später fing er wieder an:
»Meine arme Mutter! Was soll nun aus ihr werden?«
Emma machte eine Gebärde, daß sie es nicht wisse.
Da sie so schweigsam war, glaubte Karl, daß sie sehr betrübt sei, und er zwang sich infolgedessen gleichfalls zum Schweigen, um ihren rührenden Schmerz nicht noch zu vermehren. Sich zusammenraffend, fragte er sie:
»Hast du dich gestern gut amüsiert?«
»Ja!«
Als der Tisch abgedeckt war, blieb Bovary sitzen und Emma gleichfalls. Je länger sie ihn in dieser monotonen Stimmung ansah, um so mehr schwand das Mitleid aus ihrem Herzen bis auf den letzten Rest. Karl kam ihr erbärmlich, jammervoll, wie eine Null vor. Er war wirklich in jeder Beziehung »ein trauriger Kerl«. Wie konnte sie ihn nur loswerden? Welch endloser Abend! Etwas Betäubendes ergriff sie, wie Opium.
In der Hausflur ward ein schlürfendes Geräusch vernehmbar. Es war Hippolyt, der Emmas Gepäck brachte. Es machte ihm viel Mühe, es abzulegen.
»Karl denkt schon gar nicht mehr daran«, dachte Emma, als sie den armen Teufel sah, dem das rote СКАЧАТЬ