Название: Aus meinem Jugendland
Автор: Isolde Kurz
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 4064066112127
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Überhaupt, was gab es damals für Freundschaften auf der Welt, und wie lebten sie sich in Briefen aus, verschwenderisch und überschwenglich mit den inneren Gütern schaltend. Um jedes edle Herz stand eine Schutzmauer von Liebe. Die Erde mit all ihren Kümmernissen wäre ja gar nicht bewohnbar gewesen ohne den Engel der Freundschaft, der zwischen den Menschen hin und her ging. Man krittelte und zergliederte auch noch gar nicht, sondern nahm sich gegenseitig so wie man war schlechthin als Ganzes, und liebte sich ohne viel zu tüfteln und zu deuteln. Die psychologische Neugier, die nicht ruhen kann, bis sie einen Charakter in seine Einzelheiten zerlegt hat, kam erst in der jüngeren Geschlechtsreihe auf, und man dünkte sich wunder wie klug, als man zu zerfasern begann. Es fragt sich aber sehr, ob nicht jene die Klügeren waren, die das Leben ganz unbefangen lebten und, vom bloßen Ahnungsvermögen geleitet, gewiß nicht öfter fehlgriffen als die Jungen mit ihrer Weisheit.
Wenn ich an Kirchheim denke, steigt noch ein blasses, aber unverwischbares Bild vor mir auf: eine grüne Festwiese mit Bänken und Tischen, an denen getafelt wurde, und einem sich drehenden Karussell, dem Höchsten von irdischer Seligkeit, was ich damals kannte! Dann ein langer Zug von kleinen weißgekleideten Mädchen, die meisten von meinem Alter, mit Kränzen um die Stirn, je zwei und zwei sich bei der Hand haltend, während von der Wiese her die Musik tönte. Ich war ebenfalls weiß und festlich gekleidet und trug den schönsten Kranz von Maienblumen im Haar, aber ich ging nicht mit im Zug, der aus den Schulkindern gebildet war, sondern stand abseits an der Hand der Mutter, um zuzusehen. Die Brüder waren eingereiht und schritten jeder mit seiner Klasse. An mir aber ging der Zug vorüber, der grünen Wiese, dem Paradiesgarten, dem Feste der ewigen Freude zu. Da überkam es mich plötzlich, was es heißt, „nicht dabei zu sein“. Es war ein maßloser Schmerz wie ein erzwungener ewiger Verzicht auf alle Freuden dieser grünen Erde. Und Mama begriff ihr dummes kleines Mädel nicht, das nur mit Mühe unter Aufbietung allen Stolzes den Tränen wehrte. Kann aber ein Erwachsenes, auch das liebevollste, nachfühlen, was jenes Nichtdabeisein dem Kinde bedeutete?
Und nun läuten auf einmal in meiner Erinnerung Osterglocken. Aus München, wohin mein Vater sich auf ein paar Wochen zu seinem Freund Paul Heyse begeben hatte, kam die Heilsbotschaft, daß wir alle binnen kurzem nach der großen bayrischen Kunstresidenz übersiedeln würden, wo uns endlich ein freies, ein wahrhaft menschenwürdiges Leben erwartete. Dort würden die Eltern einen gleichgesinnten, fein gebildeten Freundeskreis finden, die Buben Mittel zum Studieren, ich die Gelegenheit, das Kunsttalent, das man mir zuschrieb, weil ich noch immer eifrig für mich zeichnete, auszubilden. Die Mutter ging in einem beständigen Glücksrausch umher. Aber das Verheißungsland versank, wie es aufgetaucht war; wie und warum, steht in meines Vaters Lebensgeschichte. Es war der höchste Wellenberg der Hoffnung, den unser Schifflein je erkletterte, und nun schoß es jäh in einen trostlosen Abgrund hinunter, in dem mein rasches Mütterlein schon den Untergang sah. Doch es tauchte wieder auf und schwamm einem nicht so verlockenden, aber sicheren Hafen zu, dem alten Tübingen, wo unser Vater vor Jahresschluß einen Bibliothekarsposten an der Universität antrat.
[1] Jugendfreund meines Vaters und gleichfalls Dichter, von ihm unter dem Namen Ruwald in der Novelle „Das Wirtshaus gegenüber“ eingeführt. Damals Pfarrer in Klein-Eislingen.
Das alte Tübingen.
Den Ort, an den mich jetzt meine Erinnerung führt, würde man heute auf Erden vergeblich suchen. Zwar hat sich mein altes Tübingen äußerlich nicht allzuviel verändert. Seine Gestalt ist durch den hügeligen Boden, der es trägt, und durch die geschlossenen Linien des mittelalterlichen Städtebaus für alle Zeiten festgelegt. Noch immer spiegelt sich die hohe und steile Giebelreihe der Neckarfront mit dem aus der Asche von 1875 wiedererstandenen Hölderlinsturm in dem still ziehenden Fluß, und unverrückt steht auf der höchsten Hügelkuppe Schloß Hohentübingen mit seiner gestreckten Masse und den stumpfen Türmen, die noch die Spuren Turennes und Melacs am Leibe tragen. Und die beherrschende Stiftskirche auf einem steilen, hochgemauerten Vorsprung reckt sich trotzig wie ein gewappneter Erzengel im Stadtinnern empor. Solche Züge sind unverwischbar. Aber was diesen Zügen in den sechziger und siebziger Jahren ihren ureigenen geistigen Ausdruck gab, die mittelalterliche Romantik, ist für immer daraus verschwunden. Das Studentenleben hat sich in die häßlichen Korporationshäuser auf den Anhöhen zurückgezogen, die für die weichen, niederen Hügel viel zu groß sind und laut aus der Harmonie des Ganzen herausfallen. Damals spielte sich dieses Leben noch in den krummen und steilen Straßen ab, wo das Treiben und Tollen niemals ruhte. Zwar seiner Lieblingsbeschäftigung, dem Trunk, lag der Musensohn, mit Ausnahme der beliebten „Naturkneipereien“ auf dem Wöhrd oder dem Schänzle, auch damals im geschlossenen Raume ob, aber die Folgen tobten sich im Freien aus. Es sang und klang straßenauf und -ab, noch öfter brüllte und grölte es. Dann gab es die Anrempelungen mit nachfolgender „Kontrahage“ nach dem berühmten Muster: Geschah das mit Vorsatz? — Nein, mit dem Absatz — und solche Scherze mehr. Ferner die Keilereien zwischen Farben, die sich nicht leiden mochten, und endlich die ganz großen Studentenschlachten, wo die gesamte Studentenschaft einmütig gegen die Obrigkeit oder das Philisterium, oder was sonst in ihre Vorrechte eingegriffen hatte, zu Felde zog.
Gleichfalls ein Augenblick vollkommener Eintracht war es, wenn die Schwarzwaldflößer an Tübingen vorüberfuhren. Sobald flußaufwärts die Spitze eines Floßes erschien, füllte sich die Neckarbrücke und der alte Hirschauer Steg mit Studenten, die der Anblick wie mit Besessenheit ergriff. Und so lange sich unten der vielgliedrige Wurm, von mächtigen Gestalten in hohen Flößerstiefeln gesteuert, vorüberschob, brüllte es oben von den Brücken und aus den Fenstern der Neckarhalde in langgezogenen Tönen: „Jockele, sp-e-e-e-err!“ und dann schneller: „Jockele sperr, ’s geit en Aileboga!“ (Ellbogen). Entferntere hingen, um nicht unbeteiligt zu bleiben, gewaltige Schaftstiefel zu den Neckarfenstern heraus, was die Flößer gleichfalls zu erbosen pflegte. Der Jockele war für seine saftige Grobheit in Schwarzwälder Mundart berühmt, zu meiner Zeit aber war er es schon müde geworden, auf den jahrhundertealten Ruf zu antworten. Schweigend, in philosophischer Ruhe steuerten die Riesen mit langen Stangen ihre Flöße zwischen den Pfeilern der Neckarbrücke durch, noch eine lange Strecke verfolgt von dem Gebrüll, in das auch die Gassenjugend einstimmte.
Ein anderer löblicher Brauch war, des Nachts die Laternen zu löschen und zu zerschlagen oder das Brennholz, die sogenannte „Scheiterbeig“, die nach Urvätergewohnheit vor den Häusern aufgestapelt lag, zu verschleppen. Kam der Nachtwächter oder ein Polizeidiener hinzu, so gab es tausend Mittel, ihn an der Haftbarmachung der Schuldigen zu verhindern. Es war der Geist der süßen Zwecklosigkeit, der die Jugend von dazumal beseelte und ihr als höchster Lebenswert erschien. Immer blieb der Mann der Ordnung der Geprellte, und der Philister selbst, obgleich der Schabernack sich gegen ihn richtete, stand mit seiner geheimen Sympathie auf seiten der Studenten. Die Menschheit zerfiel damals in zwei Hauptgattungen, die zugleich ihre äußersten Pole darstellten: Student und Philister. Aber beide brauchten einander, waren in jahrhundertelangen Reibereien einer um des anderen willen da. Als eine der ältesten und kleinsten Universitäten, dazu ganz abseits der größeren Verkehrswege gelegen, hatte Tübingen noch gewisse studentische Überlieferungen, die weit ins Mittelalter zurückgingen; im Untergrund des studentischen Bewußtseins lebte noch ein Rest vom Geiste der Fahrenden, dem auch gelegentliches „Schießen“ (Stehlen) zum Schaden der Philister nicht für unehrenhaft galt. So schwärmte eines Tages eine Schar Musensöhne über die Wiesen nach Lustnau aus und fand unterwegs in einem Wässerlein zwölf wohlgenährte Enten lustig schwimmend. Nur eine davon sah СКАЧАТЬ