Название: Gesammelte Werke
Автор: Isolde Kurz
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Gesammelte Werke bei Null Papier
isbn: 9783962812515
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Nein, ich danke es doch meiner Mutter, dass sie mich nicht in zarten Jahren diesen Widersprüchen ausgesetzt hat. So lernte ich die herzzerfleischende Lehre von der Passion Christi erst kennen, als ich schon mit den anderen religiösen Vorstellungswelten bekannt war und mir der Urverwandtschaft Aller als Spiegelungen einer und derselben ewigen unerreichbaren Grundwahrheit bewusst geworden. Das Christentum wäre aber schon dadurch vor allen anderen Glaubenskreisen geheiligt, dass seit seinem Bestehen alle Tränen der Menschheit da zusammenfließen. Ob wir uns zu seinen Dogmen bekennen oder nicht, es ist die Kulturluft die wir atmen und die uns allen die nicht zu brechende innere Formung gegeben hat. Christus konnte das blutige Lebensgesetz des Planeten nicht wenden. Er steht nur wie jener erschütternde Kruzifixus über dem Schlachtfeld, dem sie das stützende Kreuz im Rücken weggeschossen haben und der doch noch immer die gemarterten Arme ausgespannt hält, damit sich alle Not und Verzweiflung da hineinstürzen kann. Aus uralter östlicher Weisheit raunt eine Verkündigung herüber, dass der Lichtgeist mit jedem neuen Weltalter wiederkommen müsse um das Erlösungswerk ein Stück vorwärts zu tragen. Möge er bei seiner nächsten Kunft sich vor allem derer erinnern, die schwerer als der Mensch und unschuldiger als er an dem ersten Schöpfungsfehler leiden. Wer ohne den Stab der Überlieferung, die für mich abgerissen war, allein die Suche antritt aus Wust und Zorn und Gram der Welt nach dem liebeglühenden Gottesherzen, der fühlt wohl an dem zunehmenden Erwarmen des eigenen, dass er ihm schrittweise näherkommt. Aber zugleich mit der wachsenden Liebe zu allem Geschaffenen wächst die Verzweiflung darüber, dass alles, was Tierleib trägt, zu der grausigen Marter der gegenseitigen Zerfleischung geschaffen ist, und dass wir selbst, wie wir auch zu schonen suchen, doch immer irgendwie aus der Vertilgung von Leben unser Leben ziehen. Solange aber der Mensch den Bruder Ochs mordet um sich an ihm zu sättigen, solange mordet er auch den Menschenbruder um anderer Gelüste willen, und solange bleibt die Erlösung ein schöner Traum. Vor diesem fürchterlichen, unlöslichen Zwiespalt legt der Wanderer zu Gott ratlos seinen Stab nieder.
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Wenn es auch meinen kindischen Bemühungen nicht gelingen konnte, den Gottmenschen, nach dem ich suchte, zu finden, so fand ich dafür die Anlehnung an das Höhere in der Dichtung. Wir Kinder hatten an unsern Eltern das höchste Beispiel vor Augen, aber eine eigentliche ethische Unterweisung als abstrakte Lehre gab es für uns nicht, sie lag nur gleichsam in der Luft. Auch die zehn Gebote lernte ich erst kennen, als Alfred sie seltsam missverstanden aus der Schule mitbrachte. Und doch bedarf die junge, suchende Seele einer Formgebung im Wort, wodurch das Erfühlte Körper wird. Dieses Bedürfnis befriedigten mir in der Kindheit die Gedichte Schillers. Nicht die »Glocke«, gegen die ich trotz meiner Abkunft aus der Glockengießerzunft eine unbesiegliche Abneigung hatte als allzu bürgerlich und verstandesmäßig, sondern seine philosophischen Gedichte, vor allem »Das Ideal und das Leben«, dieses von allen Schillerschen Gedichten mit der größten Flugkraft ausgerüstete, dessen Dunkelheit mich ebenso andächtig stimmte wie mich sein Schwung mit emporriss. Ich entdeckte es für mich allein und bewahrte es als mein Geheimnis, wie alles was ich liebte. Ich trat da in eine von Silbertönen schimmernde Seelenlandschaft, worin sich die vielgeliebten Gebilde des griechischen Mythos vertraut aber feierlicher als sonst bewegen. Dass »oben in des Lichtes Fluren göttlich unter Göttern die Gestalt« wandelt, machte mich reich und selig. Ich wusste zwar nicht, wer die Gestalt war, aber das brauchte es nicht, sie war da, sie gab Gewissheit, und man musste vor ihren stillen Augen bestehen können. Dass man »die Angst des Irdischen« (wie schwer wog dieses Wort für mich!) von sich tun und »hoch auf ihren Flügeln« schweben konnte, bewirkte in mir eine Art innerer Levitation. Ich begreife es, wenn Religion ihre heiligen Handlungen in eine Sprache kleidet, die der Gemeinde dem Wortlaut nach dunkel und nur dem Gefühl erreichbar ist. So wurde Schiller – Herakles, als der er sich selbst am Schluss in der Verklärung enthüllt, gewissermaßen der geistliche Führer meiner ersten Jugend. Seine Verse hoben und trugen mich durch ihren Rhythmus und durch die bloße Folge heller und dunkler Vokale. Dass ich mich danach mit meinen poetischen Kinderversuchen an ihn, an seine griechischen Balladen zu lehnen suchte, versteht sich von selbst. Ein von meinem begeisterten Mütterlein höchst geschätztes Bemühen, das sie bald selber zunichte machte, indem sie dem scheuen Kind seine Heimlichkeiten wegnahm und unter die Leute brachte, damit den voreiligen Trieb ertötend, was ihr zum Schmerz, mir aber gewiss zum Heile war. Goethe – Prometheus, ein Prometheus ohne Geier, wie ich mit dem ganzen ehemaligen Deutschland meinte, trat erst für die Erwachsene auf den Plan, die erkannte, dass Erhabenheit auch außerhalb der erhabenen Töne wohnen kann. Dass er ebenso seinen Geier hatte wie jeder große Deutsche, den Geier des Unverstandenseins, das freilich blieb erst der selbstständigen Einsicht der reifsten Jahre vorbehalten. Denn unsere Großen müssen immer wieder von der Nation verkannt sein, damit sie von den nachwachsenden Geschlechtern jeweils auf einer höheren Erkenntnisstufe neu erstiegen werden.
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Das Leben dieses seltsamen Kindes und jungen Mädchens kann nicht verstanden werden, wenn man es nicht auf der Grundlage des vereinigten Griechen- und Germanentums liest, dessen Doppelmythos als dauerndes Wunderzeichen an meinem Jugendhimmel stand. Aus den Schicksalen meiner schönen, frühsterbenden Lieblingshelden, Achill und Siegfried, besonders des ersteren, des Halbgottes, der mit seinem unvergleichlich höheren Leben den Sieg der geringeren Waffengefährten erkauft, wusste ich schon als Kind, dass das Leben an sich tragisch ist, dass das Schöne kein Recht auf Dauer hat und das Große dem Gemeinen (das Wort im Sinne unserer Klassiker genommen) den Platz räumen muss. Aber ich wusste auch oder fühlte es, dass es eben der Sieg des Höheren ist, was durch seinen Untergang erkauft wird. Die Küste von Troja kannte ich, bevor ich noch eine ganze Straßenlänge über unseren Obstgarten in Obereßlingen hinausgekommen war, und im Heranwachsen lernte ich bald auch die Trümmerhaufen der Eddalieder kennen. Meine tiefste und dauerndste Liebe aber blieb für immer dem Sohne der Thetis, der dem Wälsungenspross in eben dem überlegen ist, was wir geneigt sind, als unser besonderes Erbteil in Anspruch zu nehmen: der Treue und Wahrheit. Denn Siegfried, der in trunkener Jugendkraft nur sich selber sieht und kennt, verrät nicht nur die ebenbürtige Braut aus Götterstamm, СКАЧАТЬ