Название: Kult-Krimis: 26 Romane & Detektivgeschichten
Автор: Friedrich Glauser
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788075834973
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Dr. Laduner sah plötzlich auf, ergriff mit der Linken den Brotkorb, mit der Rechten das facettierte Salzfäßchen, das vor seinem Teller stand, streckte beides dem Wachtmeister entgegen und sagte leise – es klang wie eine Frage:
»Brot und Salz… Wollen Sie Brot und Salz nehmen, Studer?« Dabei sah er dem Wachtmeister fest in die Augen und sein Mund hatte das Lächeln verloren.
»Ja… Gärn… Merci…« – Studer war ein wenig verwirrt. Er nahm eine der Brotschnitten, streute ein wenig Salz über die Spiegeleier auf seinem Teller… Dann nahm Dr. Laduner ein Stück Brot, ließ das weiße körnige Pulver in das aufgeschlagene Ei rinnen und murmelte dazu:
»Brot und Salz… Der Gastfreund ist unverletzlich…«
Das Maskenlächeln entstand wieder um seinen Mund, und mit veränderter Stimme sagte er:
»Ich habe Ihnen ja noch gar nichts von unserem verschwundenen Direktor erzählt. Daß er Borstli hieß, wissen Sie wohl, mit Vornamen Ulrich… Ueli, ein hübscher Name, und die Damen nannten ihn auch so…«
»Aber Ernscht!« sagte Frau Laduner vorwurfsvoll.
»Was hast du zu reklamieren, Greti? Das ist doch kein Werturteil. Eine schlichte, sachliche Feststellung… Jeden Abend, punkt sechs Uhr, ging der Direktor ins Dorf Randlingen zu seinem Freunde, dem Metzger und Bärenwirt Fehlbaum, einer Stütze der Bauernpartei. Dort trank er einen Dreier Wyßen, manchmal zwei, hin und wieder drei. Zweimal im Monat trank der Herr Direktor sich einen Rausch an, aber man merkte es nicht… Er trug eine große Lodenpelerine und einen breitrandigen, schwarzen Künstlerhut… Übrigens machte er gewöhnlich die Gutachten über die chronischen Alkoholiker. Da war er sicher kompetent… Das heißt, das stimmt auch nicht ganz. Er begann sie, die Gutachten nämlich, und dann wurde ihm die Sache zu langweilig, und ich durfte sie fertig schreiben. Ich tat es ganz gerne, denn ich kam sonst gut mit dem Herrn Direktor aus. Wenn ich die Sache nicht ganz ernst behandle, Studer, müssen Sie das entschuldigen. Der Herr Direktor hatte nämlich eine Vorliebe für hübsche Pflegerinnen, und die Meitschi waren sehr geschmeichelt, wenn der Herr Direktor ihnen sein Wohlgefallen ausdrückte, etwa mit einem kleinen Kneifen in die Wange oder mit einem sanften Tätscheln, das der Bewunderung für die Rundung ihrer Formen einen adäquaten Ausdruck verleihen sollte… Item, wie der Erzähler sagt, gestern um zehn Uhr wurde der Herr Direktor während unseres kleinen Festes ans Telefon gerufen, und seither ist er verschwunden. Ein kleiner Seitensprung? Vielleicht. Bedenklich wird die Sache eigentlich nur durch das Entweichen des Patienten Pieterlen, der sein neben dem Wachsaal B liegendes Zimmer verlassen hat unter Hinterlassung eines niedergeschlagenen Nachtwärters. Bohnenblust heißt der Nachtwärter, er hat eine eiergroße Beule an der Stirn, Folge seines Zusammenstoßes mit dem freiheitssüchtigen Pieterlen, und Sie werden ihn einem Kreuzverhör unterwerfen können… Wie gesagt, vergessen Sie eines nicht: Der Herr Direktor hat hübsche Wärterinnen gern gehabt… Aber Diskretion, wenn ich bitten darf, Anstaltsdirektoren sind tabu, außerdem kleine Päpste und als solche zur Unfehlbarkeit verurteilt…«
»Aber Ernscht!« sagte Frau Laduner, und dann mußte sie lachen. »Er redet so komisch!« entschuldigte sie sich.
Es stimmte nicht… Dr. Laduner redete gar nicht komisch. Und auch die Bemerkung der Frau war ein Täuschungsmanöver, denn sie mußte merken, daß diese witzelnde Art, zu erzählen, falsch klang. Sie war nicht dumm, die Frau Doktor, das sah man ihr an. Auch daß sie das im Dialekt sonst nicht übliche ›komisch‹ brauchte, bestätigte eigentlich den Eindruck, daß irgend etwas nicht stimmte… Was?… Es war noch zu früh, um sich auf Kombinationen einzulassen. Vielleicht war Dr. Laduners Rat, sich erst einzuleben, doch ehrlich gemeint; man konnte belanglose Fragen stellen, die aber immerhin dazu dienen mußten, die Atmosphäre, in der man sich bewegen sollte, deutlicher zu machen.
»Ihr habt von einer ›Sichlete‹ gesprochen, Herr Doktor, was war das? Ich weiß schon, was eine Sichlete ist, aber ich kann mir nicht vorstellen, daß in einer Anstalt…«
»Nun, wir sorgen für die Zerstreuung der Patienten. Die Anstalt besitzt einen großen landwirtschaftlichen Betrieb, und wenn das Korn eingebracht worden ist (›Korn eingebracht!‹ dachte Studer, ›wie der redet!‹), so feiern wir das. Wir haben eine Kapelle, die sonst den sonntäglichen Predigten dient, an den Festabenden jedoch werden Tische aufgeschlagen, Hammen, wie sie hier sagen, und Härdöpfelsalat wird aufgestellt, die Musik spielt, und unsere Patienten tanzen miteinander, Männlein und Weiblein, die Pfleger und Pflegerinnen helfen mit, der Herr Direktor hält eine Rede, es gibt Tee, und erotische Spannungen werden abreagiert… Jawohl:… Gestern, am 1. September, haben wir also die Sichlete gefeiert… Wir Honoratioren – das heißt: der Direktor, der Herr Verwalter samt Frau, der Dr. Laduner samt Frau, der Ökonom ohne Frau und die andern Ärzte, wir saßen alle auf der Bühne – denn eine Bühne hat die Kapelle auch – und sahen uns den Tanz an. Der Patient Pieterlen war auch anwesend, er sorgte für Tanzmusik, denn er versteht es, der Handharpfe Walzer und Tangos zu entlocken. Um zehn Uhr trat der Jutzeler…«
»Wer ist der Jutzeler?« fragte Studer und zog dabei sein Notizbuch. »Ihr müßt schon entschuldigen, Herr Doktor, aber mit meinem Namensgedächtnis ist es nicht weit her, und so muß ich mir Notizen machen…«
»Ge-wiß!« sagte Dr. Laduner, warf einen ungeduldigen Blick auf seine Armbanduhr und gähnte. Frau Laduner begann den Tisch abzuräumen.
»Wir haben also«, sagte Studer bedächtig und wußte ganz gut, daß er ein wenig Theater spielte, aber das schien ihm gerade günstig in diesem Augenblick. »Wir haben also als handelnde Personen:
Borstli Ulrich, Direktor – verschwunden. Pieterlen… Wie heißt der Pieterlen mit Vornamen?«
»Peter, oder Pierre, wenn Sie lieber wollen, er stammt ursprünglich aus Biel«, antwortete Dr. Laduner geduldig.
»Pieterlen Peter, Patient, entwichen…« diktierte sich Studer langsam und schrieb nach.
»Laduner Ernst, Dr. med., II. Arzt, stellvertretender Direktor!«
»Den brauch ich nicht aufzuschreiben, den kenn ich«, sagte Studer trocken und ignorierte die versteckte Bosheit. »Aber dann haben wir den Nachtwärter.«
Und Studer schrieb:
»Bohnenblust Werner, Nachtwärter auf B, Wachsaal.«
»Und«, sagte Laduner, »notieren Sie noch:
»Jutzeler Max, Abteilungspfleger, wir sagen kurz Abteiliger, auf B.«
»Was heißt der Buchstabe B?«
»B ist die Beobachtungsabteilung. Dorthin kommen alle Aufnahmen, manche Fälle lassen wir aber auch Jahre dort. Es kommt darauf an. R ist die Abteilung für ruhige Patienten, K die Abteilung für körperlich Kranke, dann sind noch die beiden unruhigen Abteilungen da: U 1 und U 2. U 2 ist der Zellenbau. Es ist leicht zu merken… Nach den Anfangsbuchstaben… Übrigens, der Abteiliger Jutzeler wird Ihnen gefallen, einer meiner tüchtigsten Leute… Was sonst an Pflegern herumläuft… Nicht einmal anständig organisieren kann man die Bande!«
›Organisieren?‹ dachte Studer. ›Was hat der alte Direktor zum Organisieren gemeint?‹ Aber er schwieg und fragte nur, während er die Spitze seines Bleistiftes über dem Notizbuch schweben ließ:
»Und was ist eigentlich mit Pieterlen?«
»Pieterlen?« wiederholte Dr. Laduner, und das Lächeln verschwand von seinem Mund. СКАЧАТЬ