Название: Hans Fallada – Gesammelte Werke
Автор: Hans Fallada
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Gesammelte Werke bei Null Papier
isbn: 9783962813598
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Er ging. In der Tür wandte er sich noch einmal um. »Sie werden in den nächsten Tagen sehr allein sein mit sich, Frau Rosenthal. Versuchen Sie, sich daran zu gewöhnen. Alleinsein kann etwas sehr Gutes bedeuten. Und vergessen Sie nicht: Es kommt auf jeden Überlebenden an, auch auf Sie, gerade auf Sie! Denken Sie an das Abriegeln!«
Er war so leise gegangen, so leise hatte er die Tür geschlossen, dass sie erst zu spät merkte, sie hatte ihm weder gute Nacht gesagt noch gedankt. Sie ging rasch zur Tür, aber schon während des Gehens besann sie sich. Sie drehte nur den Riegel zu, dann ließ sie sich auf den nächsten Stuhl nieder, ihre Beine zitterten. Aus dem Spiegel des Toilettentischchens schaute sie ein bleiches, von Tränen und Wachen gedunsenes Gesicht an. Sie nickte langsam, trübe diesem Gesicht zu.
Das bist du, Sara, sagte es in ihr. Lore, die jetzt Sara genannt wird. Du bist eine tüchtige Geschäftsfrau gewesen, immer tätig. Du hast fünf Kinder gehabt, eines lebt nun in Dänemark, eines in England, zwei in den USA, und eines liegt hier auf dem Jüdischen Friedhof an der Schönhauser Allee. Ich bin nicht böse, wenn sie dich Sara nennen. Aus der Lore ist immer mehr eine Sara geworden; ohne dass sie es wollten, haben sie mich zu einer Tochter meines Volkes gemacht, nur zu seiner Tochter. Er ist ein guter, feiner alter Herr, aber so fremd, so fremd … Ich könnte nie richtig mit ihm reden, wie ich mit Siegfried gesprochen habe. Ich glaube, er ist kalt. Trotzdem er gütig ist, ist er kalt. Selbst seine Güte ist kalt. Das macht das Gesetz, dem er untertan ist, diese Gerechtigkeit. Ich bin immer nur einem Gesetz untertan gewesen: die Kinder und den Mann liebzuhaben und ihnen vorwärtszuhelfen im Leben. Und nun sitze ich hier bei diesem alten Mann, und alles, was ich bin, ist von mir abgefallen. Das ist das Alleinsein, von dem er sprach. Es ist jetzt noch nicht halb sieben Uhr morgens, und vor zehn Uhr abends werde ich ihn nicht wiedersehen. Fünfzehn und eine halbe Stunde allein mit mir – was werde ich alles erfahren über mich, das ich noch nicht wusste? Mir ist angst, mir ist so sehr angst! Ich glaube, ich werde schreien, noch im Schlafe werde ich schreien vor Angst! Fünfzehn und eine halbe Stunde! Die halbe Stunde hätte er noch bei mir sitzen können. Aber er wollte durchaus in seinem alten Buch lesen. Menschen bedeuten ihm trotz all seiner Güte nichts, ihm bedeutet nur seine Gerechtigkeit etwas. Er tut es, weil sie es von ihm verlangt, nicht um meinetwillen. Es hätte erst Wert für mich, wenn er’s um meinetwillen täte!
Sie nickt diesem gramentstellten Gesicht Saras im Spiegel langsam zu. Sie sieht sich nach dem Bett um. Das Zimmer meiner Tochter. Sie starb 1933. Nicht hier! Nicht hier!, schießt es ihr durch den Kopf. Sie schaudert. Wie er es sagte. Sicher ist die Tochter auch durch – die gestorben, aber er wird nie darüber sprechen, und ich werde ihn auch nie zu fragen wagen. Nein, ich kann nicht in diesem Zimmer schlafen, es ist grauenvoll, unmenschlich. Er soll mir die Kammer seiner Bedienerin geben, ein Bett noch warm vom Leib eines wirklichen Menschen, der darin schlief. Ich kann hier nie schlafen. Ich kann hier nur schreien …
Sie tippt die Döschen und die Schächtelchen auf dem Toilettentisch an. Vertrocknete Cremes, krümeliger Puder, grün belaufene Lippenstifte – und sie ist seit 1933 tot. Sieben Jahre. Ich muss etwas tun. Wie es jagt in mir – das ist die Angst. Jetzt, da ich auf dieser Insel des Friedens angelangt bin, kommt meine Angst hervor. Ich muss etwas tun. Ich darf nicht so allein sein mit mir.
Sie kramte in ihrer Tasche. Sie fand Papier und Bleistift. Ich werde den Kindern schreiben, Gerda in Kopenhagen, Eva in Ilford, dem Bernhard und dem Stefan in Brooklyn. Aber es hat keinen Sinn, die Post geht nicht mehr, es ist Krieg. Ich werde an Siegfried schreiben, irgendwie schmuggle ich den Brief schon durch nach Moabit. Wenn diese alte Bedienerin wirklich zuverlässig ist. Der Rat braucht nichts zu merken, und ich kann ihr Geld oder Schmuck geben. Ich habe noch genug …
Sie holte auch das aus der Handtasche, sie legte es vor sich hin, das in Pakete gepackte Geld, den Schmuck. Sie nahm ein Armband in die Hand. Das hat mir Siegfried geschenkt, als ich die Eva bekam. Es war meine erste Geburt, ich habe viel aushalten müssen. Wie er gelacht hat, als er das Kind sah! Der Bauch hat ihm gewackelt vor Lachen. Alle mussten lachen, wenn sie das Kind sahen mit seinen schwarzen Ringellöckchen über den ganzen Schädel und seinen Wulstlippen. Ein weißes Negerbaby, sagten sie. Ich fand Eva schön. Damals schenkte er mir das Armband. Es hat sehr viel gekostet; alles Geld, das er in einer Weißen Woche verdient hatte, gab er dafür. Ich war sehr stolz, eine Mutter zu sein. Das Armband bedeutete mir nichts. Jetzt hat Eva schon drei Mädels, und ihre Harriet ist neun. Wie oft sie an mich denken mag, da drüben in Ilford. Aber was sie auch denken mag, sie wird sich nie vorstellen, wie ihre Mutter hier sitzt, in einem Totenzimmer beim blutigen Fromm, der nur der Gerechtigkeit gehorcht. Ganz allein mit sich …
Sie legte das Armband hin, sie nahm einen Ring. Sie saß den ganzen Tag vor ihren Sachen, sie murmelte mit sich, sie klammerte sich an ihre Vergangenheit, sie wollte nicht daran denken, wer sie heute war.
Dazwischen kamen Ausbrüche wilder Angst. Einmal war sie schon an der Tür, sie sagte zu sich: Wenn ich nur wüsste, sie quälen einen nicht lange, sie machten es schnell und schmerzlos, ich ginge zu ihnen. Ich ertrage dieses Warten nicht mehr, und wahrscheinlich ist es ganz zwecklos. Eines Tages kriegen sie mich doch. Wieso kommt es auf jeden Überlebenden an, wieso grade auf mich? Die Kinder werden seltener an mich denken, die Enkel gar nicht, Siegfried dort in Moabit wird auch bald sterben. Ich verstehe nicht, was der Kammergerichtsrat damit gemeint hat, ich muss ihn heute Abend danach fragen. Aber wahrscheinlich wird er nur lächeln und irgendetwas sagen, mit dem ich gar nichts anfangen kann, weil ich ein richtiger Mensch bin, heute noch, aus Fleisch und Blut, eine alt gewordene Sara.
Sie stützte sich mit der Hand auf den Toilettentisch, sie betrachtete düster ihr Gesicht, das von einem Netz von Fältchen überzogen war. Fältchen, die Sorge, Angst, Hass und Liebe gezogen hatten. Dann kehrte sie wieder zu ihrem Tisch zurück, zu ihren Schmucksachen. Sie zählte, nur um die Zeit hinzubringen, die Scheine immer wieder durch; später versuchte sie, alle Scheine nach Serien und Nummern zu ordnen. Dann und wann schrieb sie auch einen Satz in dem Brief an ihren Mann. Aber es wurde kein Brief, nur ein paar Fragen: Wie er denn untergebracht sei, was er zu essen bekomme, ob sie nicht für seine Wäsche sorgen könne? Kleine, belanglose Fragen. Und: Ihr ging es gut. Sie war in Sicherheit.
Nein, kein Brief, ein sinnloses, unnötiges Geschwätz, dazu auch unwahr. Sie war nicht in Sicherheit. Noch nie hatte sie sich in den letzten grauenvollen Monaten so in Gefahr gefühlt wie in diesem stillen Zimmer. Sie wusste, sie СКАЧАТЬ