Название: Hans Fallada – Gesammelte Werke
Автор: Hans Fallada
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Gesammelte Werke bei Null Papier
isbn: 9783962813598
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Manchmal stelle ich mich auch an das eine mir zugängliche Fenster – das andere ist durch den Glaskasten verbaut – und starre hinaus, über die stachelbewehrte Mauer hinweg, in die Freiheit, die dort sonnenglitzernd »draußen« liegt. Vor mir ragen, wiederum »draußen«, hohe Bäume. Linden sind es wohl; sie beschatten eine Chaussee, auf der Autos eilig vorbeirasen, ich sehe Mädchen auf ihren Rädern in hellen Kleidern vorbeitreten – aber ich wende den Kopf fort und trete wieder tiefer in den düsteren Gang hinein. Das Leben da draußen quält mich, es gehört nicht mehr zu mir, ich bin davon abgetrennt, nichts wissen will ich mehr von ihm! Fahrt alle vorüber und fort, werde das Land leer von euch! Die Bäume sollen verdorren, der Sand über Wiesen und Äcker wehen, Wüste müsste um ein solches Totenhaus sein, dürre, tote Wüste.
Manchmal trete ich auch in einen der beiden Tagesräume ein, in den großen oder in den kleinen, und sitze da fünf oder zehn Minuten bei meinen Leidensgefährten. Leidensgefährten? Sie können nicht so leiden wie ich, ihr Schicksal hat sich schon entschieden, es ist die Ungewissheit, die mich so quält! Manche schlafen, den Kopf auf den Tisch gelegt (denn das Schlafen auf den Betten ist verboten!), andere dösen stumpf vor sich hin, ein kleines, völlig schief gebautes, noch junges Menschenbündel, das auf beiden Augen schielt (aber auf jedem anders!), mit einem birnenförmigen Kopf, hat ein unglaubhaft schmutziges Spiel Karten vor sich und legt langsam eine Karte nach der anderen vor sich hin, betrachtet sie sehr lange und grinst blöde dabei. Einer hat eine Zeitung vor sich, über die er hinwegstarrt. Und einer hat sich sogar die Hose ausgezogen und untersucht mit schmerzverzogener Miene die eitrigen und blutigen Furunkel an seinem Bein – an unserem Esstisch!
Ich fliehe vor Ekel und stehe wieder auf dem Korridor. Ich lese die Namenstafeln an den Zellen; ich lese da: Gother, Gramatzki, Deutschmann, Brandt, Westfahl, Burmester, Röhrig, Klinger. Und im Weitergehen wiederhole ich es mir, wiederhole es wie die Vokabeln, die ich als Junge lernte: Gother, Gramatzki, Deutschmann, Brandt … Wiederhole es immer wieder, bis es sitzt. Und gehe zur nächsten Tafel über … So lerne ich, bringe die Zeit hin, diese endlose Zeit, zweieinhalb endlose Stunden! Was sind draußen zweieinhalb Stunden? Aber was sind sie hier! Aber schließlich rücken die Hausarbeiter aus ihren Arbeitszellen ein, die Mattenflechter und Bürstenmacher; Türen werden geschlagen, Rufe werden laut, im Waschraum läuft Wasser, Pfeifen werden angebrannt. Gott sei Dank, Leben, ein bisschen Leben!
Und schon ertönt der Ruf: »Die Fabrik rückt ein!« und gleich darauf der andere: »Essenholer antreten!«
Wenig später sitzen wir in dem nun wieder voll besetzten Tagesraum; die in der Fabrik waren, sollen Neuigkeiten berichten und erzählen umständlich, dass sie diesmal Kisten zu tragen hatten, die anderthalb Zentner wogen, gestern waren es Kisten, die nur einen Zentner zwanzig Gewicht hatten. Sofort wird mit wütender Erbitterung ein Streit darüber geführt, wie sich diese Gewichtsdifferenz erklären lasse.
Um unser Essen brauchen wir uns dabei nicht zu kümmern, es isst sich von selbst, es ist Wasser mit einigen Kohlrabistücken. Ich bin noch so fein, dass ich diese Stücke, die vollkommen holzig sind, neben meine Schüssel lege. Eine große, verarbeitete Hand fährt über den Tisch, reißt die Stücke mit und schiebt sie in ein weit geöffnetes Maul.
Sofort schreit mich von der anderen Seite eine wütende Stimme an: »Warum gibst du, verdammt noch mal, dem Jahnke deinen Kohlrabi?! Der Kerl frisst alles in sich rein, was er zu sehen kriegt, der würde auch Scheiße fressen, der Kerl!«
Und Jahnke brüllt wütend zurück: »Was geht dich Rotzjungen an, was ich fresse? Wenn der Neue mir den Kohlrabi gibt, ist das seine Sache! Bist du sein Vormund? Aber jeder junge Rotzjunge möchte hier Vormund spielen …«
Gottlob bin ich bei diesem neu sich entspinnenden Streit, in den sich natürlich auch sofort andere mischen (»Hört doch endlich mit diesem Gesabbel auf, Gottverdammmich! Könnt ihr nie Ruhe halten?!« – »Was geht’s dich an?!« – »Recht hat er! Ruhe wollen wir haben!« – »Und ich schreie, soviel ich will!«). Gottlob werde ich in all dem nun entstehenden Tumult ganz vergessen. Der Wachtmeister aber im Glaskasten, der auch ein Fenster in unseren Tagesraum hat, hebt bei dem Gebrüll gar nicht den Kopf, liest seine Zeitung ruhig weiter.
Das Essen ist vorüber, ich habe das gestern noch für unmöglich Gehaltene vollbracht: Ich habe einen schieren Liter warmes Wasser in mich hineingelöffelt. Im Augenblick komme ich mir gesättigt vor. In der Nacht aber wird mich das Knurren meines Magens darüber belehren, dass ich ganz und gar nicht gesättigt bin. Dafür aber werde ich von nun an auch zu den häufigen Kübelgängern gehören.
Der Oberpfleger holt die Leute zusammen, die zum Arzt sollen oder wollen, letztere nur, soweit er ihr Vorhaben billigt. Von unserer Abteilung allein an die zwanzig Mann, ich gehöre nicht dazu. In der Hauptsache sind es Arm- und Beinverletzte, in der Arbeit erworbene Schäden. Es gibt erstaunlich viele derartige Schäden, entweder taugt die Unfallverhütung in der Fabrik nichts, oder diese geistesschwachen Arbeiter sind besonders ungeschickt. (Aber in diesem Fall müsste man ihnen doch eine ungefährlichere Arbeit geben?)
Vor dem Gitter aber, das unseren Korridor gegen das Treppenhaus abschließt, haben sich andere Kranke aus den beiden Häusern drüben angesammelt, ich zähle über dreißig. Und nun rücken »die Weiber« an, meist Mädchen, auch an die zwanzig, unter der Führung ihrer Aufseherin. Sie werden ganz dicht an die Wand gestellt, und die Aufseherin passt scharf auf, dass keiner von uns mit ihnen ein Wort wechseln kann.
Aber das sind über siebzig Kranke – und jetzt ist es schon nach sieben Uhr abends! Will der Arzt bis weit nach Mitternacht Sprechstunde abhalten?! Da sind die Aussichten für mich schlecht! »Sind es immer so viel?«, frage ich einen anderen Kranken.
»So viel?«, fragt er empört zurück. »Das sind heute noch wenig! In diesem verfluchten Bau ist doch jeder einzelne krank. Aber ich melde mich schon lange nicht mehr vor, es hat ja doch keinen Zweck.«
Der Arzt ist gekommen, während ich am anderen Ende des Ganges war. Ich habe ihn nicht zu Gesicht bekommen. Aber das macht nichts, ich komme heute doch nicht vor. Es ist auch besser so, bei über siebzig Kranken hat er doch nicht recht Zeit für mich. Besser ist es, einen anderen Tag abzuwarten, an dem es ruhiger ist. Ich muss ihm meine Geschichte in aller Ausführlichkeit erzählen.
Der Oberpfleger СКАЧАТЬ