Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke. Eduard von Keyserling
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Название: Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke

Автор: Eduard von Keyserling

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия: Gesammelte Werke bei Null Papier

isbn: 9783962814601

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СКАЧАТЬ be­stä­tig­te Ag­nes, »das se­li­ge Fräu­lein hat mei­ne Schwes­ter noch un­ver­hei­ra­tet ge­kannt.«

      »So, so! Und wie geht es der Frau Böhk? Hat sie viel zu tun?«

      »Zu tun gibt es ge­nug. Sie ist die ein­zi­ge Heb­am­me der Ge­gend.«

      »Hat sie selbst auch Kin­der?« Herr Herz war ent­schlos­sen, die­ses The­ma nicht fal­len zu las­sen. Ag­nes muss­te er­zäh­len: Frau Böhk hat­te einen Sohn, dann hat­te sie noch zwei Wai­sen – Töch­ter je­nes Hans, mit dem Ag­nes zu Mark­te ge­fah­ren war – zu sich ge­nom­men. Gute Mäd­chen, ein we­nig wild.

      Auf Ro­sas Wunsch wur­de das Nacht­mahl in der Kü­che ein­ge­nom­men, und wäh­rend sie ihre Er­däp­fel mit Speck aß, dräng­te sie Ag­nes, von Ti­glau zu er­zäh­len. Ag­nes hat­te bis­her nie von ih­rem Ge­burts­ort, von ih­rer Ju­gend, von ih­ren Ver­wand­ten ge­spro­chen, heu­te aber woll­ten Rosa und ihr Va­ter von nichts an­de­rem hö­ren, al­les muss­ten sie wis­sen. So er­fuh­ren sie denn, dass Frau Böhk frü­her hübsch ge­we­sen, jetzt aber zu stark ge­wor­den sei, dass sie Herrn Böhk zum Leid­we­sen ih­rer Fa­mi­lie ge­hei­ra­tet hat­te, denn er war klein, dünn, schwäch­lich, schwarz wie ein Jude – zwar ein ge­lern­ter Uhr­ma­cher, aber voll tol­ler Ide­en, an or­dent­li­che Ar­beit nicht her­an­zu­krie­gen.

      Als das Nacht­mahl be­en­det war, schi­en das Ehe­le­ben der Böhks er­schöpft zu sein, und wäh­rend Ag­nes das Ge­schirr wusch, ging sie zum Heb­am­menex­amen ih­rer Schwes­ter über. Die arme Frau hat­te ein dickes Buch mit Bil­dern, die ei­nem weht­a­ten, wenn man sie an­schau­te, durch­stu­die­ren müs­sen. End­lich, als die häus­li­chen Ge­schäf­te ab­ge­tan wa­ren und man ru­hig um das Herd­feu­er saß, kam Frau Böhks Heb­am­men­tä­tig­keit an die Rei­he. Ge­schich­ten von den Lei­den ar­mer Müt­ter, von der Kraft und Ge­schick­lich­keit der Frau Böhk – und selt­sam war es, wie sorg­los Ag­nes heu­te von Din­gen sprach, die sie sonst vor Rosa nie nann­te, »weil sie eben nicht für Kin­der sind«.

      Es war spät ge­wor­den, als die drei noch im­mer in der Kü­che sa­ßen, eng an­ein­an­der­ge­drängt im war­men Rau­me, über den das un­ru­hi­ge Licht des Herd­feu­ers hin­flat­ter­te.

      Wie die Haus­ge­nos­sen sich eng an­ein­an­der­drän­gen, wenn ne­ben­an – im dunklen Zim­mer – ein To­ter liegt, So sa­ßen Rosa, ihr Va­ter und Ag­nes bei­sam­men, und kei­ner hat­te Lust, in die an­de­ren Zim­mer hin­über­zu­ge­hen, es war, als such­ten sie in der Kü­che Schutz vor et­was, das sie dort – im Wohn­zim­mer – an­fal­len könn­te.

      Rosa blick­te je­des­mal ängst­lich auf, wenn Ag­nes gähn­te. Sie fürch­te­te, Ag­nes wür­de schla­fen ge­hen, und die lan­ge, qual­vol­le Nacht wür­de be­gin­nen. Es war schon Mit­ter­nacht vor­über, als Herr Herz den Vor­schlag mach­te, sich zur Ruhe zu be­ge­ben. Ag­nes ging be­reit­wil­lig dar­auf ein, ja, sie freu­te sich sicht­lich dar­über; Rosa aber schi­en es, als stie­ßen ihr Va­ter und Ag­nes sie gleich­gül­tig in das Dun­kel ei­ner ein­sa­men, pein­vol­len Wan­de­rung hin­aus – nur weil sie ein we­nig schläf­rig wa­ren. Sie fand das herz­los und ging – schwer seuf­zend – in ihre Kam­mer, um sich wie­der mit ih­rem wir­ren, un­kla­ren Schmerz aus­ein­an­der­zu­set­zen.

      Drittes Kapitel

      Der ers­te Tag war leid­lich über­wun­den durch ste­ti­ges Flie­hen vor kla­rem An­schau­en der Sach­la­ge, durch me­cha­ni­sches Wei­ter­le­ben, ohne das Be­wusst­sein aus sei­ner Be­täu­bung er­wa­chen zu las­sen. Merk­wür­dig aber war es, wie Rosa die­sen Zu­stand auch für die fol­gen­den Tage fest­zu­hal­ten ver­stand, wie sie ihre Sor­gen, das Sich-Auf­leh­nen ge­gen al­les Fins­te­re und Grau­sa­me, das ihr Le­ben zer­stör­te, zur Ruhe wies – und bei­sei­te­schob mit dem mut­lo­sen Satz: »Es ist eben al­les aus.«

      Sie be­harr­te in ih­rer nacht­wand­le­ri­schen Gleich­gül­tig­keit und ließ ihre Ge­dan­ken weit ab­ge­le­ge­ne Wege ge­hen. Oft durch­leb­te sie wie­der im Geist, mit rei­ner Freu­de, ihre Ver­gan­gen­heit; die Zei­ten, da sie ein Schul­mäd­chen war und eine Rol­le un­ter ih­ren Ge­nos­sin­nen spiel­te. Nur zu­wei­len ward sie von der Erin­ne­rung der jüngs­ten Er­eig­nis­se hin­ter­rücks an­ge­fal­len wie von ei­nem wie­der­er­wach­ten ste­chen­den Schmerz, und die­se Erin­ne­rung mach­te das arme Mäd­chen bleich bis in die Lip­pen. »Nein – nein«, sag­te Rosa dann halb­laut vor sich hin, als woll­te sie die­se Bil­der von sich ab­schüt­teln.

      Das Le­ben in der Herz­schen Woh­nung nahm wie­der sei­nen ge­wohn­ten Gang. Herr Herz gab am Vor­mit­tage Turn­un­ter­richt; die Mahl­zei­ten wur­den wie­der im Spei­se­zim­mer ein­ge­nom­men, und am Abend ver­sam­mel­te sich die Fa­mi­lie um den run­den Tisch im Wohn­zim­mer. In den Klub ging Herr Herz nicht mehr, und sei­ne Woh­nung war wie eine Fes­tung ge­gen die Au­ßen­welt ab­ge­schlos­sen, nicht ein­mal Nach­rich­ten dran­gen von au­ßen hin­ein, denn Herr Herz sprach nicht mehr von La­nin und Klappe­kahl. Er­zähl­te er nicht sei­ne al­ten Thea­ter­ge­schich­ten, so schwieg er. Rosa schwieg be­stän­dig. Nur in Ag­nes hat­te sich eine un­ge­wöhn­li­che Ge­sprä­chig­keit ent­wi­ckelt; ihre fes­te, be­ru­hi­gen­de Stim­me war die meist­ge­hör­te in den jetzt so stil­len Räu­men.

      Wäh­rend der gleich­mä­ßig ver­rin­nen­den Tage kam end­lich doch ein Wan­del über das lei­den­de Mäd­chen. Statt der wei­ta­blie­gen­den, ne­bel­haf­ten Träu­me be­gann Rosa sich mit dem Zer­le­gen der für sie so ver­häng­nis­vol­len Er­eig­nis­se zu be­schäf­ti­gen; die­se Ge­dan­ken lie­ßen sich eben nicht mehr ab­wei­sen. Das stil­le, blei­che Kind fing nun un­abläs­sig mit sich selbst zu rä­so­nie­ren und zu rech­ten an. Rosa hielt im Geis­te große Re­den, ver­tei­dig­te sich, als säße sie auf der An­kla­ge­bank; war denn die­se Un­zu­frie­den­heit mit ih­rem Los nicht be­rech­tigt ge­we­sen? Der Durst nach Freu­den hat­te sie kopf­los ins Un­glück ge­trie­ben. War sie schuld dar­an, dass al­les so gars­tig und schimpf­lich ge­en­det hat­te? Ein je­des Mäd­chen hät­te ge­han­delt wie sie; ja, auch Sal­ly und Er­nes­ti­ne, wä­ren sie nicht häss­lich und schiel­ten. O die, die hat­ten es leicht, kei­ner ver­lieb­te sich in sie! Und Rosa er­ging sich in ei­nem bit­ter­bö­sen An­griff auf die­se bei­den Da­men. Im­mer neue Grün­de stell­ten sich ein, die be­wie­sen, dass Fräu­lein La­nin und Klappe­kahl arme, ver­ächt­li­che We­sen sei­en, die nie eine Lei­den­schaft er­regt oder emp­fun­den hat­ten. Gut! Rosa woll­te Bon­ne wer­den, sie war be­reit, al­les Schwe­re auf sich zu neh­men, sie er­war­te­te nichts mehr von ih­rem Le­ben, aber ge­gen ein so arm­se­li­ges Ding wie Sal­lys Exis­tenz hät­te sie es doch nicht ver­tauscht. Der Ent­schluss, fort­zu­ge­hen, be­ru­hig­te Rosa, es brauch­te ja nicht gleich zu sein, aber sie wuss­te, wor­an sie sich hal­ten konn­te. Nur über ei­nes ge­lang­te sie nicht zur Klar­heit: Sehn­te sie sich nach Am­bro­si­us – glaub­te sie noch an ihn – lieb­te sie ihn noch? Sie wuss­te es nicht. Die­se ver­wirr­te, ein­ge­schüch­ter­te Mäd­chen­see­le wag­te sich an das Ge­heim­nis ih­rer Lie­be nicht her­an. Der Ge­dan­ke an Am­bro­si­us brach­te ihr eine be­en­gen­de Schwü­le – sie ver­mied ihn, er schmerz­te zu sehr.

      Bei all­dem war ihr das stil­le Le­ben СКАЧАТЬ